Lesermeinung: Zum SS-Vergleich von Ministerpräsident Matthias Platzeck
Versöhnung und Aufarbeitung der DDR-Geschichte gehören zusammenSoll die Geschichte den Blick in die Zukunft freihalten oder sich ihr als Belastung in den Weg legen? Es gibt keinen Widerspruch zwischen einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Erbe der DDR und dem Ziel einer Versöhnung sowie Integration auch der als „staatsnah“ gehandelten Ostdeutschen in die Gesellschaft, im Gegenteil: Werden historische Deutungen mit den Erfahrungen der Bevölkerung zusammengeführt, kann die Erinnerung an die vielfältigen, alltäglichen Zumutungen der SED-Diktatur wach gehalten und akzeptiert werden.
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Versöhnung und Aufarbeitung der DDR-Geschichte gehören zusammen
Soll die Geschichte den Blick in die Zukunft freihalten oder sich ihr als Belastung in den Weg legen? Es gibt keinen Widerspruch zwischen einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Erbe der DDR und dem Ziel einer Versöhnung sowie Integration auch der als „staatsnah“ gehandelten Ostdeutschen in die Gesellschaft, im Gegenteil: Werden historische Deutungen mit den Erfahrungen der Bevölkerung zusammengeführt, kann die Erinnerung an die vielfältigen, alltäglichen Zumutungen der SED-Diktatur wach gehalten und akzeptiert werden. Und auch die politische Auseinandersetzung mit dieser Diktatur und ähnlichen Erscheinungsformen gilt es weiter zu führen; – nicht zuletzt deshalb, um die selbstkritische Perspektive auf Gefährdungen unserer eigenen Demokratie nicht zu verlieren.
Dabei sollte die Auseinandersetzung mit der untergegangenen DDR nicht als Elitenprojekt verstanden und unter Ausblendung ostdeutscher Deutungsperspektiven durchgeführt werden – es wird ein langer und quälender Prozess von oben und unten. Besteht doch sein Ziel gerade in einer kritischen Revision sicher geglaubter Standpunkte und in einem kollektiven Erfahrungswandel von großen Teilen der ostdeutschen Bevölkerung. Doch fehlen hierfür im Moment wichtige Voraussetzungen: Zum einen hat sich im Osten eine verständliche Abwehrhaltung gegen die als Bevormundung und kulturelle Hegemonie verstandene westliche Deutungsperspektive herausgebildet, zum anderen existieren angesichts holzschnittartiger Vereinfachungen nur schwache Ansätze für einen breit und kontrovers geführten innergesellschaftlichen Diskurs um die DDR-Geschichte. Schließlich fehlt die Bereitschaft vieler als „staatsnah“ bezeichneter Personen, sich zu öffnen und auf mögliche Opfer zuzugehen, – der drohende Verlust des Arbeitsplatzes oder die gesellschaftliche Ächtung sind unabweisbare Argumente. Es ist ein Dilemma: Denn auch auf der persönlichen Ebene setzen Vergebung und Versöhnung stets das Eingeständnis von Schuld und die Bereitschaft zur inneren Umkehr voraus.
Demokratie bedeutet, dass es möglich ist, eine Regierung ohne Blutvergießen abzuwählen. Es bedeutet aber auch, dass der Einzelne die Möglichkeit erhält, wenn nötig, seine Einstellungen friedlich zu revidieren. Genau in diese Richtung zielt das Argument von Matthias Platzeck, der zu Recht an die Integrationsleistung der alten Bundesrepublik und das „über den eigenen Schatten springen können“ eines Kurt Schumachers erinnert. Die Entgegnungen sind bemerkenswert, denn sie zeigen, wie sehr der westliche Blick bis heute von der als verfrüht oder verfehlt angeprangerten Integration der NS-Täter geprägt ist, da sie mit einer Vertuschung von Belastungen einherging. Ob sie tatsächlich so falsch war, bleibt dahingestellt, denn viele NS-Belastete haben sich durch eigene Anschauung und eigenes Mittun zu überzeugten Demokraten gewandelt. Deutlich wird jedenfalls, dass die um viele Jahre verzögerte und noch immer infrage gestellte Integration der ostdeutschen Eliten einen zweifelhaften „Lernerfolg“ beschreibt. Zwar wurden Belastungen offen gelegt, eine Integration blieb aber trotzdem aus. Auch deshalb benötigen wir neue Perspektiven in der historischen Deutung und politischen Weitblick.
Die kritische Revision von Einstellungen erfordert noch eine Reihe weiterer Bedingungen: Dazu gehört die Bereitschaft zu reden und einander zuzuhören, divergierende Meinungen zu durchdenken, Gespräche ohne gegenseitige Vorverurteilung zu führen, Räume für ein angstfreies Aufeinanderzugehen zu organisieren und Sensibilität für Biografien in Diktaturen zu entwickeln, die eben nicht schwarz-weiß zu malen sind. Als zentrale Voraussetzung für einen Erfahrungswandel erweist sich noch immer die Perspektive eines Neubeginns und Ankommenkönnens in der demokratischen Gesellschaft. Genau darin lag und liegt das Kriterium einer erfolgreichen Integrationsleistung. Geht diese Perspektive im Falle von Teilen der ehemaligen DDR-Bevölkerung durch dauerhafte Differenzierung und Schlechterstellung verloren, dann wird auch die notwendige Auseinandersetzung mit der DDR und ihrem System stagnieren. Genau das ist bis heute leider der Fall: Eine festgefahrene Sicht auf die Vergangenheit und eine verbaute Zukunft hängen auf diese Weise unmittelbar zusammen.
Prof. Dr. Jürgen Angelow, Universität Potsdam, Historisches Institut
Der Historiker der Humboldt-Universität, Heinrich August Winkler, liegt selber falsch
Der hochgeschätzte Herr Winkler bemüht in der Kritik an Ministerpräsident Platzeck einen nicht akzeptablen Vergleich zwischen der Wende 1989 und dem Aufbau der Bundesrepublik nach 1945.
Stimmt es wirklich, dass die Nazis massenhaft, die SED nur bei einer Minderheit Unterstützung fanden? Gab es wirklich keine Alternative, als den weniger belasteten Nazis eine zweite Chance zu geben? Ich war damals zehn Jahre alt und hätte mir in der Schule gewünscht, von weniger Belasteten unterrichtet zu werden. Zeitgeschichte und Literatur waren Fehlanzeige, weil die Lehrer sich nicht so schnell zurecht fanden. Auch mit meinen Eltern hätte ich gerne darüber geredet, wo sie denn 1933 waren und was mein Vater in der Zivilverwaltung in Holland und später in Warschau erlebte. Ich habe den Anfang unter Adenauer erlebt und unter mangelnder Orientierung, fehlender Ideale und Wahlkämpfen unter dem Motto „Freiheit oder Sozialismus“ gelitten. Es gab beachtliche NPD-Wahlerfolge und die gewaltsame Aufarbeitung 1968. Es gab auch das Wirtschaftswunder, unsere freiwillige Eingliederung in Europa. Warum? Weil wir Deutschen unserer selbst nicht sicher waren und erst ganz allmählich den Schrecken begriffen und das „Nie Wieder“ zur Leitidee machten. Aber so richtig schwarz-weiß kann ich diese Zeit mit all ihren Schattierungen noch immer nicht begreifen.
Deshalb frage ich, was es heißt, dass es 1989 einen Wiederholungszwang für „Augen zu und durch“ und „zweite Chance für die meisten“ nicht gegeben habe. Wieso eigentlich nicht? Gab es nur Exkulpation im Westen und richtige „Entnazifizierung“ für den Osten Deutschlands? Diese Überheblichkeit ist unerträglich. Oder wollte man die DDR eingliedern und den Bürgern nicht das Recht auf politischen Irrtum und Zeit für die Neuorientierung gewähren?
Es ist falsch zu glauben, es hätte keine Aufarbeitung in Brandenburg gegeben. Es ist ebenso falsch zu glauben, wir hätten beim Aufbau des Landes nicht versucht genau hinzusehen, wo Milde angesagt, keine Übernahme in den Landesdienst in Betracht kam oder gar strafrechtliche Relevanz lag. Wir haben sicherlich mit unterschiedlichen Maßstäben je nach Ressortverantwortlichkeit der Minister entschieden. Die Vorgabe aus der Staatskanzlei war mit und trotz der Diskussion um Herrn Stolpe klar und eindeutig: Die nicht schwer Belasteten bekamen nach Überprüfung ihre Chance. Sollten wir denn nur mit (gar nicht im erforderlichen Umfang vorhandenem) westdeutschem Personal anfangen? Wir haben uns in der Spitze eins zu eins und in der Linie mit überwiegend ostdeutschem Personal aufgestellt. Westdeutsche kamen in Betracht, wenn Qualifikation und Erfahrung mit dem neuen Rechts- und Verwaltungssystem nicht ausreichten. Zum Schluss noch eins: Die hysterische Ablehnung der Koalition mit der mit 27.9 Prozent gewählten Linken kommt aus der gleichen Ecke der Unversöhnlichkeit. Verständnis habe ich mit den Opfern der Willkür und Zwangsherrschaft. Jetzt begreifen viele die politische Zwangsläufigkeit des Wahlergebnisses vom 27. September. Die so genannten Wessis sollten sich lieber an ihre eigene Geschichte erinnern und ihren Beitrag für den Abbau der Spannungen und weiter bestehenden inneren Spaltung überdenken.
Jürgen Linde, Chef der Staatskanzlei von 1990 bis 1999, Potsdam
Treffen mit Tätern war politisch und moralisch nicht zu rechtfertigen.
Matthias Platzeck will die von ihm angestrebte „Versöhnung“ und die Überwindung des von ihm diagnostizierten ungesunden Risses durch die ostdeutsche Gesellschaft untermauern mit einem Bezug auf den Umgang mit Mitläufern und Tätern aus der Zeit des Nationalsozialismus. Ganz untauglich ist dabei der Verweis auf das Treffen von Kurt Schumacher mit zwei früheren höheren Offizieren der Waffen SS im Oktober 1951 als Vertreter eines SS-Interessenverbandes. Zur Erinnerung: Die Waffen-SS war zur „unbedingten Treue“ zu Hitler verpflichtet und sollte zugleich eine rassistische und politische Führungsschicht im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie bilden. Sie war verantwortlich für unzählige grausame Kriegsverbrechen. Zwischen den Wachmannschaften der Vernichtungslager und der Waffen-SS bestand ein personeller Austausch. Im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher 1946 erklärte der Internationale Militärgerichtshof die Waffen-SS wie auch die allgemeine SS und die Totenkopfverbände wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur verbrecherischen Organisation. Die unmittelbare Nachkriegszeit war in Westdeutschland geprägt von Verdrängung und „dem Blick nach vorn“. Das Handeln Kurt Schumachers erscheint in diesem Licht etwas weniger verwerflich. Aus heutiger Sicht muss man feststellen: Das Treffen mit Tätern, die für unbeschreibliche Verbrechen verantwortlich waren, war politisch und moralisch durch nichts zu rechtfertigen. Schon gar nicht taugt dieses Treffen als Beispiel für heutiges Verhalten – aus vielerlei Gründen. Entscheidend ist dabei, dass der Eindruck erweckt wird, was damals richtig war, können wir uns heute als Beispiel nehmen. Das führt zu einer Bagatellisierung der Naziverbrechen, was doch unmöglich gemeint sein kann. Eine Richtigstellung, die diesen Namen verdient, wäre äußerst hilfreich.
Friedhelm Schmitz-Jersch, Schwielowsee
Platzeck hat grundsätzlich Recht
Unsere Ethik beruht laut Grundgesetz nicht auf Rache. Sogar Mördern wird nach 15 Jahren ihre Schuld erlassen.
Das Wahlergebnis der Linken kam in lupenreiner demokratischer Wahl zustande. Sollen sich die anderen Parteien – frei nach Brecht - ein anderes Volk wählen?
Ohne die breite Kritik an der SPD gäbe es Die Linke nicht. Die SPD muss deshalb unterhalb der Bundesebene diese Absplitterung zu integrieren versuchen.
Hans-Dieter Zinnäcker, Werder/Havel
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