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Affäre Wulff: Mit einer Entschuldigung ist es nicht getan

Selbstbegnadigungen misslingen immer: Die Öffentlichkeit verzeiht am ehesten, wenn jemand seine Fehler ohne weitere Rechtfertigungsversuche eingesteht.

Angesichts des Eifers, mit dem die Medien auch kleinere Fehler höchster Amtsinhaber anprangern und mit dosierten Neu-Enthüllungen die Empörung der Bürger am Kochen halten, wird zuweilen – eher als leiser Zwischenruf – die Frage laut, wie es denn um die Einstellung zur Vergebung in dieser Gesellschaft stehe. Das mediale Bild ist diffus. Allemal scheint die kollektive Wahrnehmung von Verfehlungen und ihre mediale Aufbereitung im Vordergrund zu stehen, während das Wissen über die innere Logik von Entschuldigung und Vergebung relativ ungeklärt bleibt. Freilich, in spektakulären Ausnahmefällen berichten die Medien über Akte der Vergebung – so zum Beispiel, wenn ein Papst (Johannes Paul II.) seinen Attentäter in der Gefängniszelle besucht und ihm verzeiht. Oder wenn ein Opfer der Apartheitspolitik wie Nelson Mandela zusammen mit Bischof Tutu es wagt, mit einer Politik der Verbindung von Wahrheit und Vergebung die zutiefst zerrissene Nation zu versöhnen.

In das Szenario ist auch die Beobachtung einzufügen, dass in den vergangenen 20 Jahren in europäischen Ländern nach Krisen und moralisch bedenklichen Handlungsweisen so häufig wie nie zuvor von „Verantwortlichen“, die für sich oder für ganze Gruppen sprachen, eine Rhetorik des Sich-Entschuldigens praktiziert wurde. Da es keinen wirklichen Adressaten gibt, der die Entschuldung gewähren könnte, muten diese Akte allerdings wie Vorgänge der Selbstentschuldung oder Selbstbegnadigung an. Diese Appelle verfangen bei den Bürgern so wenig, weil diese im Innersten wohl ahnen, dass man sich selbst gar nicht entschulden kann, sondern dass es dafür immer eines anderen bedarf, der die Entschuldung gewährt. Man kann also nur um Entschuldigung bitten. Einen Anspruch auf Entschuldung gibt es nicht.

Eine Besinnung auf das, was Vergebung/Verzeihung ist und wie sie sich im öffentlichen Raum artikuliert, legt einen behutsamen und reflektierten Umgang mit dieser Kategorie nahe. Denn sie gehört vorrangig in den Bereich der personalen Kommunikation: Ein Geschädigter gewährt einem Übeltäter Vergebung. Dem Täter wird in diesem Akt zugesagt, er sei wieder als integre Person respektiert. Die Vergebungszusage kann auch einer Reue-Bekundung zuvorkommen! Denn oftmals löst erst solch ein Wagnis jenen Prozess aus, in dem sich ein Übeltäter seinen eigenen Abgründen stellt, weil er nämlich nicht mehr befürchten muss, als Person mit seinen Taten schlechthin identifiziert zu werden. In diesem Fall ist Verzeihung eine Voraussetzung der Reue. Im öffentlichen Raum, in dem man gar nicht unmittelbar betroffen ist, sich jedoch emotional mit Opfern oder auch Institutionen identifiziert, weil die Verletzung von Recht oder Moral „irgendwie“ alle betrifft, ist eher eine Abschwächungsform der Vergebung, die Nachsicht, zu erwarten oder zu erhoffen. Auch die Bereitschaft, kleinere Fehler oder Missgriffe bewusst zu übersehen, gehört in diesen Kontext der Nachsichtigkeit.

Wann muss die Öffentlichkeit nachsichtig sein? Wann ist Strenge gefragt?

Halten wir fest: Verzeihung erbitten erfordert vorherige Selbsteinsicht und Bedauern; Verzeihung gewähren jene, die sich durch ein Handeln geschädigt fühlen, und zwar aus innerer Freiheit und ohne sich einer Nötigung von außen zu fügen. Gibt es keine geschädigten Personen, die entschulden können, so kommt es auf die Frage an, inwieweit in der Öffentlichkeit eine Kultur der Nachsichtigkeit entwickelt ist.

Offenbar sehen es Bürger einem Politiker nicht nach, wenn sein persönliches Verhalten, mag es auch juristisch unanfechtbar sein, die „Würde des Amtes“ verletzt, von dessen Integrität und Ausstrahlungskraft man sich ein bestimmtes Bild macht. Das gilt erst recht für einen Bundespräsidenten, der bei früheren Gelegenheiten das Fehlverhalten anderer Politiker, auch eines Bundespräsidenten, besonders heftig gebrandmarkt hat.

Wie schwer sich Institutionen, die beanspruchen, Gnade zu verwalten, damit tun, eigene Fehler und Unrecht einzugestehen, lässt sich an der katholischen Kirche ersehen. In einer ähnlichen Rolle befindet sich der Bundespräsident. Denn er ist jene Instanz, die im Einzelfall eines rechtskräftig Verurteilten, unter bestimmten Bedingungen, Gnade walten lassen kann. In einem säkularen Gemeinwesen setzt dies offenbar auch eine außer-ordentliche Integrität des Amtsinhabers voraus. Denn ein präsidialer Gnadenerweis ist nicht bedingungslos; der Präsident hat zu prüfen, ob der um einen Gnadenerweis Nachsuchende sich glaubwürdig von seinen Taten distanziert hat. (Erinnert sei an Gnadengesuche von RAF-Terroristen in der Ära Köhler.)

Wann ist „die“ Öffentlichkeit beziehungsweise „die“ Gesellschaft in ihren Reaktionen zur Nachsicht geneigt? Sicherlich nicht, wenn eine Führungspersönlichkeit ihre Fehlereingeständnisse im gleichen Atemzug in Rechtfertigungsversuche einbettet wie „Jeder macht mal Fehler“. Wenn einer hingegen – aus Kalkül oder Aufrichtigkeit – uneingeschränkt eingesteht, er habe gravierende Fehler gemacht, was er bedauere, so kann er noch am ehesten auf Nachsicht sowohl in den Medien als auch bei den Bürgern hoffen.

Zwei Beispiele aus dem akademischen Leben zeigen den gegensätzlichen Umgang mit Verfehlungen: Der weltberühmte italienische Rechtsphilosoph Norberto Bobbio hatte einst als junger Mann eine Ergebenheitsadresse an Mussolini gesendet. In den 90er Jahren kam das an den Tag. Kollegen, Schüler und viele Wohlmeinende sprangen dem „Bloßgestellten“ bei und plädierten für Nachsicht in Anbetracht des großen seriösen Werkes dieses Wissenschaftlers. Bobbio selbst wies solche Entlastungsargumente öffentlich mit dem Hinweis zurück, jene Handlungsweise sei unentschuldbar und könne auch nicht durch die Integrität späterer Lebensführung oder ein beeindruckendes Oeuvre kompensiert werden. Genau eine solche Haltung ist es, auf die der wohlmeinende Beobachter gar nicht anders reagieren kann als mit Nachsicht, ja: Sympathie.

Die als links-liberal und immer regime-kritisch geltende ungarische Philosophin Agnes Heller hatte, als sie circa 30 Jahre alt war, mit Bezugnahme auf die „Konterrevolution“ von 1956 der kommunistischen Parteiführung eine „Selbstkritik“ geschickt und die Partei um Instruktion gebeten, wie zu denken und zu handeln sei. Im Jahr 2011, als dieses prekäre, aber eigentlich doch verzeihliche Dokument einer bedrängten Wissenschaftlerin ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt wurde, bekundete sie ihre Scham, aber rechtfertigte sich zugleich mit dem Hinweis auf den Apostel Petrus, der auch den Herrn wiederholt verraten habe, und doch sei auf ihn die ganze Kirche aufgebaut worden.

Die Schuldfrage im historischen Kontext

Besonders nach politischen Systemumbrüchen stellt sich oft auf spektakuläre Weise die Frage, wie weit die Nachsicht mit den Tätern und Mitläufern eines Unrechtsregimes reichen soll und darf. Weil so viele Menschen betroffen sind, die sich phasenweise gewissen-los angepasst verhalten hatten, ist die Bereitschaft sehr verbreitet, Nachsicht zu üben und die berechtigten Zwischenrufe der wirklichen Opfer zu ignorieren oder zu überspielen. Ein Mittel der Gnade, das oftmals von den Tätern sogar regelrecht eingefordert wird, ist die Gewährung einer Amnestie. In solchen Zeiten kommt es auf das Finden der richtigen Balance zwischen klarer Benennung der Unrechtstatbestände, Wiedergutmachung gegenüber den Opfern und Nachsicht für die Täter an, denen nach einer Schamfrist in der Regel die Chance zum Neuanfang eingeräumt wird. Wie schwer diese Balance zu finden ist, lässt sich an der aktuellen Kontroverse zwischen Joachim Gauck und Roland Jahn ablesen: Darf man akzeptieren, dass ehemalige IM, die zwischenzeitlich zu verlässlichen Bürgern geworden sind, in der Stasi-Unterlagenbehörde arbeiten?

Die Nachsicht, welche die Gesellschaft denen entgegenbringt, die im früheren System Praktiken des Unrechts und der Unterdrückung zu verantworten hatten, kann von diesen auf unterschiedliche Art „beantwortet“ werden: Die einen sind dankbar für die Chance eines Neuanfangs, die anderen fühlen sich – borniert und verstockt zugleich – in ihrer Auffassung bestätigt, dass alles doch nicht so schlimm war. Und sie setzen auf das schnelle Vergessen. Eine Gesellschaft, die ein kulturelles Klima der Nachsichtigkeit aus humanen Gründen befürwortet (auch wenn sie dem Vergessen des Staatsunrechts mit Blick auf die Opfer entgegenarbeitet), muss das Abstoßende in solchen beschönigenden Haltungen als unvermeidbar hinnehmen.

Glücklicherweise gibt es eindrückliche Gegenbeispiele für ehrliche Selbst-Klärung. Der ehemalige Feuilletonchef der „Zeit“, Fritz J. Raddatz, hatte in den frühen 50er-Jahren im Kulturapparat der DDR eine wichtige Funktion inne. In einer publizierten radikalen Gewissensprüfung räumte er ein, zwar niemand anderem geschadet, durch viele kleine Akte des politischen Opportunismus jedoch die eigene Integrität beschädigt zu haben.

Die beschriebenen Momente des Verzeihensvorganges, was gegeben sein muss, was ihn erschwert, hängen nicht von der Größe des Vergehens ab. 1945 wollten die meisten Deutschen den gigantischen Verbrechenscharakter des Regimes nicht wahrhaben. Die Seelen der Zeitgenossen waren imprägniert mit dem Wertgefühl und -gefüge des autoritären Gemeinwesens. Entschuldigende Ursachenbeschreibungen und Verdrängung von fürchterlichen Tatsachen verbanden sich miteinander. Im Großen und Ganzen verzieh man sich selbst – und besetzte ohne tiefere Skrupel im neuen Staat die Positionen der Macht. Sensiblere Intellektuelle, die begeistert mitgemacht hatten, dichteten gar nicht so selten ihre Biografie um und vermittelten von sich das Bild des Widerstandskämpfers (wie zum Beispiel jüngst in einer Biografie über Luise Rinser dokumentiert wurde). Im Gegenzug entwickelte sich nach dem kulturellen Bruch der 68er-Bewegung ein hochmoralischer öffentlicher Diskurs, der sich in einer Art Zivilreligion der kollektiven Selbstanklage und der ewigen Schuld Deutschlands verdichtete. Gerade weil die vulgäre kollektive Selbstentschuldung nicht mehr die Szene beherrschte, konnte sich jetzt auch in Hinsicht auf Vergebung/Nachsicht eine differenziertere Konstellation ausbilden. Menschen, die auf entsetzliche Weise entwürdigt worden waren, rangen sich zu der Erklärung durch, sie könnten nun den Deutschen verzeihen. Gerade mit Unterstützung früherer Opfer wurden jetzt Menschen namhaft gemacht, die viele gerettet oder Untergetauchten das Überleben ermöglicht hatten. Nur vor diesem Hintergrund wird aber auch verständlich, warum es für Bundespräsident von Weizsäcker plausibel war, sich für die Begnadigung des Kriegsverbrechers Hess einzusetzen.

In dieser Zeit meldete sich auch der als Nazi-Jäger berühmt gewordene Simon Wiesenthal mit seiner Geschichte: Er hatte, als täglich vom Tod bedrohter KZ-Insasse, sich nicht in der Lage gesehen, einem blutjungen SS-Mann, der ihm im Sterben seine Untaten „gebeichtet“ hatte, ein Wort der Vergebung zu sagen, das dem Mann das Sterben erleichtert hätte. Mit dieser seiner stummen Verweigerung ist Wiesenthal nie fertig geworden: Er schickte den Bericht darüber an führende Politiker, Literaten, Kirchenleute seiner Zeit und bat sie, Stellung zu nehmen, ob er sich schuldig gemacht habe. Die höchst gegensätzlichen Antworten veröffentlichte er zusammen mit dem Bericht unter dem Titel „Die Sonnenblume“. Eines wird in diesen Stellungnahmen ganz deutlich: Das Verzeihen ist immer ein absolut freier Akt, der nicht verlangt werden kann, sondern der einem „Geschenk“ gleichkommt. Und in dieser Freiheit jenseits aller Gesetzlichkeit entscheidet jeder gemäß seiner individuellen Urteilskraft, Lebenserfahrung, Sensibilität.

Ob Vergebung, bis hin zur schwächeren Form eines Plädoyers für Nachsichtigkeit, wirksam wird, könnte von der Schwere der Schuld abhängen. Markiert vielleicht das Unverzeihliche eine Grenze? Diese Frage beantwortete der jüdische Philosoph Jacques Derrida mit der Zumutung eines Paradoxes: Erst im Verzeihen des Unverzeihlichen bewährt sich eine humane Geistesverfassung.

Schwerste Schuld oder geringfügiges, aber höchst ärgerliches Fehlverhalten öffentlicher Personen – die Merkmale der Durchsetzungskraft von Vergebung/Nachsicht bleiben dieselben. Selbstbegnadigung misslingt immer.

Klaus-Michael Kodalle

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