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Von Fabian Leber: Mitte ohne Maß

Der Sozialstaat wird nicht verändert – auch weil die Mittelschicht Reformen hemmt

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Der etwas hysterische Streit, der sich in den vergangenen Wochen in Deutschland zugetragen hat, neigt sich dem Ende entgegen. „Wir sind die Partei, die Maß und Mitte hat“, sagt Bundeskanzlerin Angela Merkel über die Union und meint damit ein ganzes Land. Ihr Vizekanzler Guido Westerwelle sagt: „Ich habe nie einen Hartz-IV-Empfänger kritisiert.“ Soll es das also gewesen sein? Die viel beschworene „Sozialstaatsdebatte“ ist schon am Ende, bevor sie überhaupt richtig begonnen hat. Wer eine Diskussion darüber erwartet hatte, ob ein intervenierender Wohlfahrtsstaat nach der Blaupause der 70er Jahre noch tragfähig ist, wurde enttäuscht.

Dafür gibt es gute Gründe. Mit seiner Wir/Sie-Unterscheidung (hier die arbeitenden Steuerzahler, dort die nicht arbeitenden Transferempfänger) hat Westerwelle nämlich eines überdeckt: Nicht nur eine Unterschicht aus Erwerbslosen und Alleinerziehenden lebt in Deutschland vom Versorgungsstaat, auch die Mittelschicht ist aufs Engste mit dem System staatlicher Umverteilung verquickt.

Darauf hat indirekt wiederum die FDP aufmerksam gemacht mit dem Argument, dass ein Drittel der deutschen Wirtschaftsleistung für soziale Leistungen aufgewendet wird. Der Eindruck, als werde mit der Summe von 777,2 Milliarden Euro aus Steuergeldern und Sozialbeiträgen allein ein gesellschaftliches Prekariat unterstützt, ist allerdings falsch.

Laut Sozialbericht der Bundesregierung flossen im vergangenen Jahr 48 Milliarden Euro aus Steuermitteln in die Grundsicherung von Hartz-IV-Empfängern. Der weitaus größere Teil der sozialstaatlichen Umverteilung aber spielt sich innerhalb der Mittelschicht selbst ab. Allein die eigentlich beitragsfinanzierte Rentenversicherung muss vom Bund mit 70 Milliarden Euro jedes Jahr bezuschusst werden. Auch in die Kranken- und Arbeitslosenversicherung fließen hohe Milliardenbeiträge – und das ist nicht nur krisenbedingt.

Ob Riester-Rente oder Kurzarbeitergeld: Auch die Mittelschicht ist an das System etatistischer Fürsorge angeschlossen – und fühlt sich von einem Zurückfahren des Sozialstaats womöglich noch stärker bedrängt als die Empfänger der Grundsicherung. Die breite Ablehnung der Krankenkassen-Kopfpauschale unter Arbeitnehmern, wiewohl sie sozial ausgestaltet werden könnte, ist ein erstes Indiz dafür.

Nicht die Kritik am angeblich leistungsfeindlichen Hartz-IV-System ist also das größtmögliche Tabu in der Debatte. Gefürchtet wird vielmehr die Frage, vor welchen Herausforderungen die arbeitende Mitte in der Gesellschaft steht. Auch für den faktischen Kombilohn, der Geringverdienern offen steht, wenn die Koalition nun die Hinzuverdienstmöglichkeiten bei Hartz IV erweitert, werden am Ende die Steuerzahler aufzukommen haben.

Man strengt sich an, und bekommt dafür etwas: Nicht nur am unteren Ende der Gesellschaft ist dieser Mechanismus teilweise außer Kraft gesetzt worden, auch in der Mittelschicht gilt dieses Versprechen nicht mehr ungebrochen. Eine tiefgreifende Debatte darüber, welche Leistungen der Staat zu erbringen hat, müsste deshalb zuallererst dort beginnen.

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