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Ein Mann bekreuzigt sich am Gebäude der Zeugen Jehovas an der Deelböge im Hamburger Stadtteil Alsterdorf, nachdem Blumen und Kerzen niedergelegt wurden.

© dpa/Georg Wendt

Nach dem Anschlag von Hamburg-Alsterdorf: Als wäre nichts gewesen

Ein Amoklauf in einem Gebetshaus – ob Kirche, Synagoge oder Moschee – hallt besonders stark nach. Warum ist das anders, wenn Zeugen Jehovas die Opfer sind?

Ein Kommentar von Malte Lehming

Etwas stimmt nicht. Es fehlen die Reflexe des Mitgefühls. Das anhaltende Entsetzen, die Blumenberge, die spontanen Kerzenprozessionen, die demonstrative Solidarität mit den Opfern.

Drei Tage nach dem Terroranschlag auf Gläubige der Zeugen Jehovas im Hamburger Stadtteil Alsterdorf schreibt die dpa: Zum Zustand der Verletzten habe es auch keine neuen Informationen gegeben. „Planungen für Trauermärsche oder Gedenkveranstaltungen wurden am Wochenende ebenfalls nicht bekannt.“

Nein, solche Planungen wurden nicht bekannt. Wahrscheinlich gab es sie nicht. Bekannt wurde lediglich, dass die evangelische Bischöfin Kirsten Fehrs im Gottesdienst im Lübecker Dom Fürbitte für die Opfer hielt. Immerhin das.

Was ist anders diesmal – und warum?

In der nüchternen Sprache der Nachrichtenagentur verbirgt sich eine Frage: Was ist anders diesmal – und warum? In der Regel hallt ein Amoklauf in einem Gebetshaus – einer Kirche, Synagoge, Moschee - besonders stark nach. Drei Beispiele aus jüngster Zeit.

Im Oktober 2018 ermordet ein rechtsradikaler Antisemit in der Tree-of-Life-Synagoge in der amerikanischen Stadt Pittsburgh elf Menschen. Die Erschütterungen durchdringen das ganze Land. Noch in der Nacht des Verbrechens versammeln sich Hunderte vor dem Tatort und entzünden Kerzen.

Im Dezember 2018 feuert ein Islamist in unmittelbarer Nähe des Weihnachtsmarktes in Straßburg mit einer Kurzwaffe auf Passanten und sticht mit einem Messer auf andere ein. Drei Menschen kommen ums Leben. Das Verbrechen weckt Erinnerungen an den Terroranschlag auf Besucher des Berliner Weihnachtsmarktes an der Gedächtniskirche zwei Jahre zuvor.

Sehr bald dreht sich die Debatte ums Waffenrecht

Mitte März 2019 dringt ein aus Australien stammender Rechtsterrorist in zwei Moscheen in der neuseeländischen Stadt Christchurch ein. Er schießt um sich und ermordet 51 Menschen.

Im Anschluss kommt es zu bemerkenswerten Szenen der Anteilnahme. Premierministerin Jacinda Ardern eröffnet die Parlamentssitzung mit der arabischen Friedensbotschaft „As-Salaam-Alaikum“. Als Zeichen der Solidarität mit den Muslimen trägt sie, wie viele andere Neuseeländerinnen auch, ein Kopftuch.

Nichts von alledem geschieht nach dem Amoklauf von Alsterdorf. Hamburgs Erster Bürgermeister Peter Tschentscher bricht seinen Österreich-Urlaub ab, auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser kommt und verurteilt die Tat. Aber das bleiben vereinzelte Gesten. Sehr bald dreht sich die Debatte ums Waffenrecht und die Frage, warum der Attentäter mit seinen Wahnvorstellungen nicht rechtzeitig dingfest gemacht werden konnte.

Oft schwingt die Legende von einer strengen, skurrilen Sekte mit

Medial dominiert die Erzählung von einer Art Familienfehde, die dann eskalierte. Der Attentäter soll ein ehemaliges Mitglied der Glaubensgemeinschaft gewesen sein. Die Behörden sagen, er habe die Zeugen Jehovas „freiwillig, aber nicht im Guten“ verlassen. Vielleicht wollte da jemand eine offene Rechnung begleichen.

Oft schwingt die Legende von einer strengen, skurrilen Sekte mit, die Aussteigern das Leben schwer macht. Das wiederum verführt leicht zu der Annahme, die Einstellungen der Opfer hätten den Täter provoziert. Von da bis zur Irgendwie-auch-selbst-Schuld-Haltung ist der Weg manchmal kurz.

Ihre Mitglieder verweigerten den Kriegsdienst und den Führerkult

Am Samstag nach dem Amoklauf warnten die Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas und die Arnold-Liebster-Stiftung in einer gemeinsamen Erklärung davor, dass sich in den Berichten über die Zeugen Jehovas nicht „jahrzehntelang gepflegte Vorurteile“ Bahn brechen dürften. Die Schwelle zu „Häme, Hass und Hetze“ sei schnell überschritten.

„Es verbietet sich“, so heißt es weiter, „über einen Zusammenhang zwischen der Glaubensgemeinschaft und den Motiven des Täters zu spekulieren. Die Opfer eines Verbrechens können und dürfen nicht zur Erklärung der Taten eines Verbrechers missbraucht werden.“

Sie haben den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts

Erinnert wird daran, dass die Zeugen Jehovas die erste Religionsgemeinschaft waren, die von den Nationalsozialisten verboten wurde. Ihre Mitglieder verweigerten den Kriegsdienst und den Führerkult, leisteten Widerstand und halfen anderen Verfolgten.

Das Bundesverfassungsgericht hat der Glaubensgemeinschaft den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts zuerkannt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat wiederholt die Diskriminierung von Jehovas Zeugen verurteilt.

Die Katholische Nachrichtenagentur hat aus der gemeinsamen Erklärung zitiert. Dann folgt der Satz: „Die Zeugen Jehovas sind eine christliche Gemeinschaft mit einer eigenwilligen Bibelauslegung.“ Eigenwillig – das klingt nach gaga. So lassen sich Vorurteile beklagen und im selben Atemzug transportieren.

Breitscheidplatz in Berlin, Straßburg, Pittsburgh, Christchurch: Dass sich Alsterdorf ins kollektive Amoklauf-Gedächtnis ebenso einbrennt wie diese Orte, ist unwahrscheinlich. Den Zeugen Jehovas fehlt, bis auf wenige Ausnahmen, die Lobby. Einfach nur gläubige Menschen zu sein, denen Unrecht widerfuhr, reicht fürs gesellschaftliche Mitgefühl offenbar nicht.

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