Meinung: Nicht nur Evangelikale
Religion hat bei der amerikanischen Wahl eine geringere Rolle gespielt als angenommen
W er betet, führt Kriege. Von Gott nach Guantanamo führt ein direkter Weg. George W. Bush ist ein Ajatollah. Seine Anhänger hassen Schwule, verachten Frauen, wollen das Tanzen verbieten und Filme, in denen ein Bauchnabel zu sehen ist. Am 2. November haben christliche Fundamentalisten die Macht erobert. Sie planen eine konservativ-religiöse Revolution. Das Mittelalter meldet sich zurück.
Selten wurde nach einer Wahl so viel Unsinn geschrieben. Die Verlierer sind enttäuscht, ja verbittert. Das Ergebnis war eindeutig. Und weil nicht sein kann, was nicht sein darf, wurde das Walten finsterer Mächte vermutet. Denn gegen die ist man wehrlos. Die Analyse stützt sich auf zwei Zahlen: Für 22 Prozent der Wähler waren „moralische Werte“ wichtig, von denen wiederum stimmten rund 80 Prozent für Bush. Es ist grotesk: Diese dürftige Statistik reicht aus, um das liberale, weltoffene Amerika bedroht zu sehen. Wer die Welt nicht mehr versteht, schlägt Alarm. Nach der Devise: lieber laut als richtig.
So entstehen Legenden. In der ersten Interpretationswelle der Wahl haben sich die Vereinfacher durchgesetzt. Ihre Bibel ist die soziologische Studie „What’s the Matter with Kansas?“ von Thomas Frank. Deren Kernthese ist vulgärmarxistisch: Viele Wähler im Herzland Amerikas stimmen gegen ihre ökonomischen Interessen. Stattdessen verteidigen sie traditionelle Werte. Aus Liberalen wurden Konservative. Deren politische Haltung – ich akzeptiere die Arbeitslosigkeit, wenn bloß die Homo-Ehe verboten bleibt – sei irrational. Wissenschaftlich weniger ambitioniert hat es am Tag nach der Wahl der britische „Daily Mirror“ ausgedrückt: „Wie können 59 054 087 Menschen so blöd sein?“
Amerika und die Religion: Europäer und säkulare Linke in den USA pendeln bei diesem Thema zwischen Ignoranz und Alarmismus. Die natürliche Frömmigkeit, die ein Großteil der Amerikaner lebt, ist ihnen fremd. Wer täglich betet, macht sich verdächtig. Die Religion wird dämonisiert. Doch wer Zahlen sät, soll Zahlen ernten: Wie kommt es, dass 38 Prozent jener Amerikaner, die die Abtreibung in den meisten Fällen erlaubt lassen wollen, für Bush gestimmt haben? Wie kommt es, dass 22 Prozent derer, die die Homo-Ehe befürworten, und 52 Prozent derer, die für eine zivilrechtliche Gleichstellung homosexueller Paare sind, für Bush waren?
In den USA wird die These von der „religiösen Konterrevolution“, die Bush angeblich zum Sieg verhalf, langsam revidiert. Was so verführerisch plausibel klang, erfüllte offenbar eher eine psychologische Funktion: Sie ersparte den Demokraten das Nachdenken. Der Reflex ersetzte die Reflexion. Doch wie erklärt sich zum Beispiel, dass rund 20 Prozent der Irakkriegsgegner für Bush stimmten? Warum konnte der Präsident so stark bei den Latinos punkten, die der Karikatur der weißen, waffenverliebten Evangelikalen so gar nicht entsprechen? Außerdem verlor John Kerry überall dort an Ansehen, wo Michael Moore für ihn auftrat.
Die USA haben ein solides Wirtschaftswachstum und eine Arbeitslosigkeit von etwas über fünf Prozent. Wer in einer solchen Gesellschaft nicht allein nach materialistischen Kriterien seine Wahl trifft, verhält sich nicht irrational. Vielleicht sind die Erklärungen des Wahlausgangs viel banaler: Kerry war weder charismatisch, noch hatte er eine Botschaft. Demagogisch erfolgreich nährten die Konservativen Zweifel an seinem Charakter. Bush schürte die Angst vor weiteren Terroranschlägen und mobilisierte die eigene Basis. Als Amtsinhaber war er im Vorteil. Sein Wertkonservatismus kam an. Einen einzigen Nachteil hat diese Erklärung: Sie ist zu wahr, um schön schaurig zu sein.