Meinung: Nichts bleibt beim Alten
Nach dem grotesken Wahlbetrug in der Ukraine: Europa darf jetzt nicht schweigen
Der Sieg schien schon in Reichweite für die Opposition in der Ukraine. Schließlich hatte ihr Kandidat Viktor Juschtschenko im ersten Wahlgang einen hauchdünnen Vorsprung geschafft – trotz massiver Wahlfälschungen. Hatte das nicht gezeigt, dass selbst die Macht des Regimes von Präsident Leonid Kutschma ihre Grenzen hat? Doch nach der Stichwahl kam die Ernüchterung: Vorerst scheint es, als bliebe alles beim Alten. Wieder einmal hat das Regime seinen Kandidaten durchgesetzt, mit allen Mitteln. Im Osten der Ukraine, in den Hochburgen von Wahlsieger Viktor Janukowitsch, müsste praktisch jeder, der laufen kann, zur Wahl gegangen sein, wenn man den offiziellen Zahlen Glauben schenkt. Von einer demokratischen und fairen Wahl kann keine Rede sein.
Wird der autoritär regierende Kutschma nun durch einen autoritär regierenden Janukowitsch ersetzt? Bleibt wirklich alles beim Alten in der Ukraine? Das hängt auch davon ab, wie die Opposition jetzt reagiert und wie der Westen auf die Entwicklung antwortet. Die Opposition, derzeit so stark wie nie zuvor, sieht sich um den schon fast sicher geglaubten Wahlsieg gebracht. Viel spricht dafür, dass sie sich das diesmal nicht gefallen lassen wird. Zehntausende gingen bereits am Montag auf die Straßen. Die Bilder wecken Erinnerungen an Georgien im Herbst 2003. Auch dort entzündeten sich Massenproteste an einer gefälschten Wahl. Am Ende der „Rosenrevolution“ zwang die Opposition Staatschef Eduard Schewardnadse zum Rücktritt. Lässt sich das georgische Modell auf die Ukraine übertragen?
Juschtschenko ist auf jeden Fall in der Lage, Zehntausende zu mobilisieren. Doch bei diesem Vergleich wird eines oft vergessen: Es war nicht selbstverständlich, dass die georgische Revolution ohne Blutvergießen ablief. Würde der Clan um Kutschma tatenlos zusehen, wie ihm die Macht aus den Händen gleitet? Oder würde das Regime nach sowjetischem Vorbild Machterhalt um jeden Preis wollen? Als Reaktion auf die Proteste wurden in Kiew bereits Truppen zusammengezogen. Wenn die Opposition Ernst macht und das Regime nicht nachgibt, könnten im schlimmsten Fall Chaos oder gar bürgerkriegsähnliche Zustände die Folge sein.
Können wir uns das leisten, direkt vor unserer Haustür? Sollen wir tatenlos zusehen und hoffen, das Ganze werde schon irgendwie gut ausgehen? Natürlich können Diplomaten Chaos auf den Straßen nicht verhindern. Aber sie können der ukrainischen Führung unmissverständlich klar machen, welche Kriterien die EU an eine künftige Zusammenarbeit mit ihrem Nachbarn anlegt, welche Mindeststandards Kiew einhalten muss. Die EU muss sich auch entscheiden, ob sie eine derart unfaire Wahl überhaupt anerkennen kann. Dass die EU-Staaten nun die ukrainischen Botschafter einbestellen, ist zumindest ein erster Schritt.
Die Abstimmung galt als Richtungswahl für den künftigen außenpolitischen Kurs der Ukraine: Juschtschenko steht für eine Annäherung an den Westen, mit Janukowitsch werden die Beziehungen zu Russland wohl noch enger als bisher. Nicht umsonst hat Putin ihn im Wahlkampf massiv unterstützt. Aber selbst ukrainische Regierungsvertreter geben zu, dass es ohne die EU künftig nicht geht, dass eine Abkehr von Europa nicht im Interesse ihres Landes sein kann. Eines will die Regierung in Kiew unbedingt vermeiden: international völlig isoliert zu werden wie das Regime in Weißrussland. Die EU wird deshalb auch künftig für die Ukraine wichtig sein. Nun ist es Sache Europas, dies politisch zu nutzen.