Meinung: Revolution aus San Francisco
Kulturkampf – und bald Wahlkampf? Die Amerikaner streiten über die Homo-Ehe
Was spricht dagegen? Die Moral! Die Tradition! Die Bibel! Nirgends wird der Streit über die Homo-Ehe so erbittert ausgetragen wie in den USA. Das hat drei Gründe. Erstens sind Amerikaner sehr religiös. Mehr als 80 Prozent aller Ehen werden mit dem Segen Gottes geschlossen. Die meisten Religionen lehnen es ab, Homosexuelle zu trauen. Zweitens die Geschichte der Bürgerrechtsbewegungen. Die Befürworter der Homo-Ehe sehen sich als Teil einer historischen Entwicklung. Sie umfasst das Frauenwahlrecht ebenso wie die Aufhebung der Rassendiskriminierung. Das lädt den Diskurs auf. Latent ist jeder Gegner der Homo-Ehe ein Gegner aller bürgerrechtlichen Errungenschaften.
Drittens enthält das stark föderale Rechtswesen der USA eine gehörige Portion Anarchismus. Die 50 Bundesstaaten haben weit reichende Befugnisse. Was in dem einen erlaubt ist, kann der andere verbieten. Keiner gestattet bislang die Homo-Ehe. Nur in Vermont wurde eine Form der zivilrechtlichen Vereinigung zwischen Gleichgeschlechtlichen zugelassen, die „civil unions". Das Oberste Gericht von Massachusetts wiederum erklärte vor drei Monaten das Verbot der Homo-Ehe für verfassungswidrig. Wie die Aufregung um San Francisco zeigt, wo sich seit knapp zwei Wochen mehr als 6000 Schwule und Lesben haben trauen lassen, kann sogar ein Bürgermeister das Recht in die eigene Hand nehmen. Nun klagt jeder gegen jeden. Die kalifornische Verfassung definiert die Ehe ausdrücklich als Bund zwischen Mann und Frau. Der Zusatz war vor vier Jahren nach einem Referendum aufgenommen worden. Damit verstößt die Verfassung allerdings, wie der Bürgermeister meint, gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz.
Seit dem Urteil von Massachusetts machen religiös-konservative Kreise mobil. Sie fordern einen Verfassungszusatz, der die Ehe als Institution zwischen Mann und Frau definiert und die Rechte der Bundesstaaten einschränkt, dagegen zu verstoßen. Der Druck auf das Weiße Haus nimmt zu. Aus dem Streit könnte das beherrschende Wahlkampfthema werden. Vor vier Jahren verzichteten vier Millionen evangelikaler Christen auf eine Stimmabgabe. Dieses Potenzial könnte George W. Bush jetzt aktivieren. Der Vater des Präsidenten war einst nicht wiedergewählt worden, weil er den Kontakt zur konservativen Basis verloren hatte. Dieses Schicksal will sich Junior ersparen. Trotzdem zögert er. Die Sache ist verzwickt. Eine klare Mehrheit der Amerikaner lehnt einerseits die Homo-Ehe ab, andererseits aber auch deren explizites Verbot durch einen Verfassungszusatz. Die Republikaner haben überdies den Ruf zu verteidigen, die Rechte der Bundesstaaten meist eher gestärkt zu haben. Dem Vorwurf, nun der Untugend der zentralistischen Bevormundung zu erliegen, möchte man sich nicht aussetzen. Und schließlich: Die Befürwortung zumindest von homosexuellen Zivilehen liegt im Trend. Je jünger die Wähler, desto toleranter sind sie. Bush muss aufpassen, nicht als Anwalt von Ewiggestrigen wahrgenommen zu werden.
Die Opposition dagegen ist geeint. Die Homo-Ehe wird ebenso abgelehnt wie ein Verfassungszusatz. Aber viele prominente Demokraten unterstützen die „civil unions", in denen Adoptions-, Vermögens-, Erbschafts- und andere Rechte eheähnlich geregelt werden. Beide Seiten können leicht überziehen. Rigidität und Laisser-faire sind gleichermaßen verpönt. Sollte die Homo-Ehe wirklich ins Zentrum des amerikanischen Kulturkampf-Wahljahres rücken, steht auf ihr ein riesiges Warnschild: „Handle with care" – Bitte höchste Vorsicht walten lassen.