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Meinung: …Türkei

Susanne Güsten über Freudenschüsse aus scharfen Waffen und ihre Folgen

Der Polterabend war in vollem Gang, als der achtjährige Ibrahim müde wurde und seiner Mutter auf den Schoß kletterte. Aus der Geborgenheit ihrer Arme sah der kleine Junge den Hochzeitsgästen beim Tanzen und Singen zu, während ihm langsam die Augen zufielen. Die Trommeln schlugen immer schneller, die Gäste tanzten immer ausgelassener. Bald zogen ein paar Feiernde ihre Pistolen und feuerten in die Luft. Den kleinen Ibrahim traf auf dem Schoß seiner Mutter eine Kugel in den Kopf. Er starb auf dem Weg ins Krankenhaus – eines von jährlich rund 500 Todesopfern der so genannten Freudenschüsse, mit denen viele Türken trotz aller Verbote noch immer festliche Ereignisse feiern.

Ob bei Hochzeiten oder nach wichtigen Fußballspielen – Freudenschüsse aus scharfen Waffen waren den Türken bisher nicht auszutreiben. Auch Streitereien schlagen häufig in blutige Auseinandersetzungen um. Insgesamt werden in der Türkei jährlich rund 3000 Menschen erschossen.Schätzungen zufolge sind etwa sieben Millionen Schusswaffen im Umlauf, 90 Prozent davon illegal. Fast jeder zehnte Türke ist also bewaffnet ist, auch viele Politiker. Erst vor kurzem ließen sich zwei Abgeordnete aus der Regierungspartei von Recep Tayyip Erdogan dabei filmen, wie sie bei einer Feier mit Pistolen in die Luft ballerten. Dass jedes Jahr viele ihrer Landsleute von Querschlägern getötet oder verletzt wurden, nahmen die Türken lange mit erstaunlichem Gleichmut hin. Doch in den vergangenen Wochen häuften sich die Zwischenfälle so sehr, dass ein Umdenken eingesetzt hat. Die Zeitungen berichten fast täglich in großer Aufmachung über blutige Konsequenzen der Schießereien: Mal werden Musiker bei einer Hochzeitsfeier verletzt, mal stirbt ein neunjähriges Kind, das bei einem Streit auf der Straße getroffen wurde.

Unter dem öffentlichen Druck zeigen sich Politiker reumütig. Ein Abgeordneter gab seine Waffe ab, Parlamentspräsident Bülent Arinc will die Kampagne „Ein Leben ohne Waffen“ starten. Erdogan wies seinen Stab an, nach Lösungen zu suchen. Eine Abgeordnete fordert, die Vorschriften für Waffenscheine zu verschärfen. Neue Gesetze werden wahrscheinlich nicht viel helfen. Schon jetzt drohen jenen lange Haftstrafen, die mit Freudenschüssen einen Menschen töten. Verurteilt wird aber kaum jemand. Was fehlt, ist das Bewusstsein dafür, dass Waffen gefährlich sind. In einem Waffenladen in Ankara trafen Zeitungsreporter vor einigen Tagen einen Achtjährigen, der von seinem Vater geschickt worden war. Er sollte Patronen für eine Hochzeitsfeier kaufen.

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