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Lange Warteschlangen, hier in Tiergarten, prägten die Berlin-Wahlen vor einem Jahr.

© Foto: picture alliance/dpa/Monika Skolimowska

Nach der Schelte durch das Verfassungsgericht: Das Berliner Wahl-Desaster muss jetzt Folgen haben

Die Berliner Wahlen könnten wiederholt werden. Damit steht der rot-grün-rote Senat auf der Kippe. Er muss jetzt die Vertrauenskrise lösen, die er selbst zu verantworten hat.

Robert Ide
Ein Kommentar von Robert Ide

Stand:

Zunächst ein Servicehinweis: Am 2. April 2023 findet in Berlin der Halbmarathon statt. Wenn die Hauptstadt also neu wählen muss, sollte sie einen anderen Sonntag als diesen dafür wählen. Es ist alles schon so peinlich genug.

„Eine vollständige Ungültigkeit der Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus und für die zwölf Bezirksverordnetenversammlungen kommt in Betracht.“ Was der Berliner Verfassungsgerichtshof am Mittwoch feststellte, wussten die Berlinerinnen und Berliner schon lange, die vor einem Jahr zu Tausenden in langen Schlangen warteten, um endlich ihre Stimmen für Bundestag, Landesparlament, Bezirksversammlungen und Volksentscheid abgeben zu können.

In Massen fehlten korrekte Wahlzettel, die wegen des zeitgleich stattfindenden Marathons auch nachträglich nicht den richtigen Weg durch die Stadt fanden.

Das Ende des Durchwurschtelns

Bei zu knapp bemessener Vorbereitung meinte sich die Verwaltung alt-berlinisch durchwurschteln zu können. Es klappte auf die neu-berlinische Art: nicht.

Ein Tiefschlag für das Engagement aller freiwilligen Wahlhelferinnen und Wahlhelfer, die ehrenamtlich retten sollten, was der Staat zu managen nicht in der Lage war. Ein Desaster aber vor allem für das demokratische Gemeinwesen, das vom Vertrauen in freie, geheime und faire, mithin also sauber organisierte Wahlen lebt. Das muss jetzt Folgen haben.

Zuerst politische: Der vormalige Innensenator Andreas Geisel (SPD) hat zwar seit dem Desaster versucht, sich formal für unzuständig zu erklären. Doch auch als nun umtriebiger Bausenator kann er der Verantwortung, die seine Behörde für die Aufsicht der Wahlen hatte, nicht entfliehen – und muss nun Konsequenzen ziehen.

Mit ihm steht der ganze rot-grün-rote Senat auf der Kippe – und Berlins Politik inmitten komplexer Krisen vor dem nächsten Neuanfang. Sie muss nicht nebenbei, sondern zuallererst eine Vertrauenskrise lösen, die sie selbst zu verantworten hat.

Die Parteien haben den Wahlkampf schon begonnen

Überrascht kann niemand tun. Die Parteien bereiten sich seit Wochen insgeheim und intensiv auf den Ernstfall vor, der nun wohl eintritt. Grünen-Umweltsenatorin Bettina Jarasch scheint mit unzähligen Terminen in der Stadt bereits auf inoffizieller Wahlkampftour. Das insbesondere von der Regierenden Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) gegen den Widerstand Brandenburgs durchgesetzte 29-Euro-Ticket für den Nahverkehr wird nicht nur im Nachbarland als vorgezogenes Wahlkampfgeschenk angesehen. Angesichts des anhaltenden Reformstaus in Schulen, Ämtern und auf Straßen sinkt ihre Beliebtheit trotzdem.

Und die CDU, bundespolitisch trotz jahrelanger eigener Versäumnisse und inmitten einer die ganze Gesellschaft erschütternden Krise auf Fundamentalopposition getrimmt, kündigt an, nun „ganz Berlin erobern“ zu wollen.

Auch Berlins Bezirke müssten wieder neu anfangen

Ein Jahr ist die alte Wahl erst her, und schon ist alles ganz anders. Berlin hat eine neue Wahl, eine durchaus spannende: Wird sich die von Parteipatriarch Raed Saleh angeführte SPD diesmal in eine Koalition mit CDU und FDP zu retten versuchen? Werden sich Grüne und CDU verbünden, um die jahrzehntelange SPD-Herrschaft im Roten Rathaus zu brechen?

Wie schwach wird die Linke, die es im Bund nicht schafft, sich glaubhaft vom russischen Kriegsdespoten Putin zu distanzieren? Wie stark wird die immer radikalere Protestpartei AfD, die es auch in Berlin nicht schafft, sich glaubhaft von Rechtsextremen zu distanzieren? Und wie wird erst manches, über Monate hinweg mühsam geschmiedetes Bündnis in Berlins Bezirken nach einer Neuwahl aussehen?

Wie hoch oder niedrig wird überhaupt die Wahlbeteiligung sein nach einem auch sozial frostigen Winter mit einem Krieg vor Augen und einem teuren Energiedispo auf den Konten?

Das alles spricht für intensive Monate. Aber das alles ist nicht die Hauptsache an Berlins desaströser Marathon-Wahl. Das Wichtigste wird sein, zerstörtes Vertrauen zu reparieren – durch eine tatsächlich freie, geheime, faire Neuwahl, durch eine endlich einmal funktionierende Verwaltung. Nur das wird die Demokratie in Krisenzeiten stärken und auch Berlin als Stadt wieder stärker machen. Wer übernimmt dafür jetzt die Verantwortung?  

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