Meinung: Wie muss eine Liebeserklärung sein – majestätisch oder schüchtern?
Pascale Hugues, Le Point
Stand:
Meine lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger, keine Minute habe ich aufgehört, Sie in meinem Herzen und meinem Geist zu bewahren. Keine Sekunde habe ich aufgehört, für das bezaubernde Frankreich zu wirken. Dieses Frankreich, das ich ebenso liebe, wie ich Sie liebe. Dieses Frankreich, dessen können Sie gewiss sein, wird die Welt auch weiterhin in Erstaunen versetzen. Es lebe die Republik! Es lebe Frankreich!“
Vergangener Donnerstag, 20 Uhr. Ich sitze allein in meiner Küche in Berlin und höre Radio. Diese bombastische Deklamation quillt zwischen Teekanne und Zuckertopf hervor. Sollte es sich vielleicht um Georges Clemenceau handeln, den siegreichen Tiger, der hoch zu Ross die Franzosen grüßt, am Tag nach dem Waffenstillstand, der den Ersten Weltkrieg beendet? Oder spricht da General de Gaulle, der über das Mikrofon der BBC seinen berühmten Appell an sein geschlagenes Volk jenseits des Ärmelkanals verbreitet?
Nein, nein, es ist nur Jacques Chirac, 74 Jahre alt, der sich vor der Trikolore von den Franzosen verabschiedet und ankündigt, dass er bei den Wahlen im kommenden Monat nicht kandidieren wird. Das präsidiale Tremolo lässt die Gläser neben dem Radio erzittern. Die Wörter blähen sich auf, bis sie den ganzen Raum erfüllen. Und wenn meine Augen plötzlich brennen, so liegt das nicht an den Zwiebeln, sondern an der majestätischen Liebeserklärung, die mich rührt.
Wenn man im Ausland lebt, wird man schrecklich sentimental. Geben Sie es doch zu: Er hat Stil, unser Präsident. Er weiß wenigstens, wie man sein Volk galant behandelt. Ganz anders als Ihr Flegel Schröder, der sich grinsend in seinem Sessel zurücklehnte und sich bei der legendären Elefantenrunde nach der letzten Bundestagswahl weigerte, seiner Rivalin den Platz zu räumen. Auch nicht mit Ihrem Stoiber zu vergleichen, der sich lange Zeit mit beiden Händen an seinem Sessel festklammerte und versicherte, er werde bis 2013 im Amt bleiben, ob die Bayern es nun wollten oder nicht. Und ich möchte nicht an den unsäglichen Erich Mielke erinnern, der vor der Volkskammer der dahinsiechenden DDR stotterte: „Ich liebe doch alle – alle Menschen – Na ich liebe doch – Ich setze mich doch dafür ein!“ Die Versammlung und das ganze Land wurden von Lachsalven erschüttert. Der Stasichef konnte in puncto Verführungskraft nicht mit unserem nationalen Don Juan mithalten. Oh ja, Chirac drückt sich so feinsinnig aus, als er die politische Bühne verlässt, auf der er seit vierzig Jahren agiert. Und sich in seiner Berliner Küche, so weit von Frankreich entfernt, im Herzen seines Präsidenten verwurzelt zu finden, das tut gut!
Allerdings habe ich einen Moment geglaubt, ich würde eine historische Archivaufnahme hören. Ich meinte, einem der großen Volkstribune aus dem vorigen Jahrhundert zu lauschen. Einer dieser schwülstigen Reden, die die französischen Kinder seit mehreren Generationen einlullen. „Nur in Größe und Ruhm kann Frankreich bestehen“, erklärte Charles de Gaulle. „Frankreich muss wieder zum Leuchtturm der Völker werden, das ist seine Bestimmung“, versprach Jacques Chirac bereits am Abend seiner ersten gewonnenen Präsidentschaftswahl am 7. Mai 1995.
Und jetzt trockne ich mir ganz schnell die Augen. Das Pathos dieser Worte ist so lächerlich. Es hat keinen Bezug zur Wirklichkeit, und es irritiert mich. Die deutschen Politiker mit ihrer schamhaften Rhetorik sind mir plötzlich so sympathisch. Wie bescheiden ist doch Angela Merkel, wenn sie uns mit monotoner Stimme anvertraut, sie wolle Deutschland „dienen“. Und wie schüchtern wirkt Ihr Bundespräsident, wenn er es mit spitzem Mund zu sagen wagt, er „liebe“ sein Land. Ein Geständnis, das ihm im Übrigen kilometerweise skeptische Kommentare in den deutschen Feuilletons eingebracht hat. Stellen Sie sich einmal einen deutschen Politiker vor, der mit ebenso viel Glut wie Jacques Chirac seine Leidenschaft für das „bezaubernde“ Deutschland erklären würde. Stellen Sie sich Angela Merkel vor, wie sie Ihnen gesteht, sie habe nie aufgehört, Sie zu lieben.
Zweifellos ist Chirac der letzte französische Präsident aus einer untergegangenen Zeit. Vive la République! Vive la France!
Aus dem Französischen von Elisabeth Thielicke.
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