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Meinung: Zahn um Zahn

Der „Larvenroller“ soll Quelle des Sars-Virus sein

Von Alexander S. Kekulé

WAS WISSEN SCHAFFT

Der Bösewicht trägt eine Maske und schleicht sich bei Nacht an. Er ist ein hervorragender Jäger, versteckt sich, wo er nur kann und bedient sich einer Vielzahl von Namen. Er hat, so sagen die Pekinger Gesundheitsbehörden, nicht weniger als 774 Menschen auf dem Gewissen. Deshalb soll der Mörder nun getötet werden, gemeinsam mit 10 000 seiner Artgenossen – Blutrache auf Chinesisch.

Der Delinquent, der korrekt „Larvenroller“ (Paguma larvata) heißt, soll das lange gesuchte natürliche Reservoir des Sars-Virus sein. Das nachtaktive Kleinraubtier sieht so ähnlich aus wie ein Marder mit weißer Maske. Wegen seines englischen Namens „masked palm civet cat“ wird es meist falsch als „Zibetkatze“ übersetzt. Larvenroller gehören jedoch nicht zu den Zibetkatzen, sondern sind nur landläufig mit ihnen verwandt, weil beide zu den „Schleichkatzen“ gehören. Von den putzigen Tierchen hat es bisher nur eine Art zu weltweiter Berühmtheit gebracht, zumindest bei Kindern: Das Erdmännchen Timon aus dem „König der Löwen“.

Bisher kannte den Larvenroller nur in Südchina jedes Kind: Als beliebte Delikatesse. Weil Sars im vergangenen Winter erstmals ausgebrochen ist und bei Larvenrollern ein dem Sars-Erreger verwandtes Coronavirus gefunden wurde, galten die Kleintiere schon länger als eine mögliche Quelle der Lungenseuche. Auf dem Höhepunkt der Krise hatten die Behörden deshalb ihren Verkauf untersagt. Das Verbot wurde jedoch, trotz Protesten von Wissenschaftlern und der WHO, aus Rücksicht auf die Zuchtindustrie im August wieder aufgehoben.

Nun soll das Versäumnis durch eine ebenso unsinnige Gewaltaktion wieder gutgemacht werden. Vergangenen Dezember war in der südchinesischen Provinz Guangdong ein neuer Sars-Verdachtsfall aufgetreten, der am Montag durch Tests bestätigt wurde. Zwar hat der inzwischen wieder genesene Patient keine seiner 81 Kontaktpersonen angesteckt. Doch mutmaßen einige chinesische Wissenschaftler, dass das jetzt aufgetretene Sars-Virus eine neue Variante sei, die identisch mit den Coronaviren der Larvenroller ist. Obwohl die zu Grunde liegenden Forschungsdaten bisher weder veröffentlicht noch bestätigt sind, haben die Behörden die sofortige Massentötung aller Larvenroller in Guangdong angeordnet.

Gerade wenn die vage Vermutung der chinesischen Forscher stimmt, gefährdet das Blutbad auf Tiermärkten, in Zuchtbetrieben und Restaurants die ganze Welt: Ohne aufwändige Sicherheitsmaßnahmen wäre ein erneutes Überspringen des Sars-Virus auf den Menschen kaum zu verhindern. Doch Peking hat durch die Krise des letzten Jahres gelernt, dass Seuchen auch verheerende wirtschaftliche Schäden anrichten können. So dient die spektakuläre Aktion wohl nicht nur dem fragwürdigen medizinischen Zweck, sondern soll vor allem den erneuten Zusammenbruch der Reiseindustrie verhindern.

Wenn die possierlichen Beweismittel erst vernichtet sind, kann ihre vermutete Rolle bei der Sars-Übertragung kaum noch erforscht werden. Ob der Larvenroller, der von Früchten und Insekten lebt, wirklich schuldig im Sinne der Anklage ist, wird die Welt dann möglicherweise nie erfahren.

Der Autor ist Direktor des Instituts für Mikrobiologie an der Universität Halle. Foto: J. Peyer

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