
© MARTIN SIGMUND/Martin Sigmund
Oper über Franz von Assisi: Eine Pilgerreise raus in die Natur
In der Staatsoper Stuttgart inszeniert Anna-Sophie Mahler „Saint François d’Assise“ des überzeugten Katholiken Olivier Messiaen als achtstündiges Klangerfahrung.
Stand:
Trockeneis wabert von oben hinab in die Arena. „Die Musik trägt uns zu Gott durch Mangel an Wahrheit“, hat der Engel eben gesungen: in einem glitzernden Paillettenkostüm, dessen Form derjenigen einer Gottesanbeterin ähnelt. „Der musizierende Engel“ hat der Komponist Olivier Messiaen das fünfte Bild seiner 1983 uraufgeführten Oper „Saint François d’Assise“ genannt, und vor allem eine musikalische Passage darin trifft ins Herz dessen, was die Staatsoper Stuttgart in ihrer außergewöhnlichen Neuproduktion dieses Stücks vermitteln will.
Zwei Gegensätze finden zueinander: Hier ätherische Klänge des Chores, dort die schwebenden Klänge der Ondes Martenot. Hier die menschliche Stimme, dort das elektronische Instrument. Hier die Natur, dort das künstlich Hergestellte.
Das ist das Thema der Inszenierung, deren Bilder in Stuttgart die Regisseurin Anna-Sophie Mahler und die Bühnen- und Kostümbildnerin Katrin Connan verantworten: Wege zu bahnen zwischen Kunst und Natur. Das Leben des Franz von Assisi bietet dafür Anlass genug, der aktuelle Klimawandel ebenfalls. Und weil Messiaens Werk weniger Oper ist als oratorisches Stationendrama oder meditativer Kreuzweg, ist das Opernhaus nur der Ausgangs- und Endpunkt der Aufführung. Zwischendurch geht die Kunst raus in die Natur.
Guides teilen Besuchergruppen nach Vogelnamen auf
Zu erleben ist „Saint François d’Assise“ als Pilgerreise. Oder auch als eine Art Klassenfahrt, denn die Besucher, die nach dem dritten Bild den Kunsttempel in Richtung des Killesbergparks verlassen, werden in Gruppen mit Vogelnamen aufgeteilt, und Guides leiten nacheinander Menschen mit sprechenden Armbändern in die U-Bahn: Turteltauben, Rotkehlchen, Singdrosseln, Steinschmätzer. Zwischen der Versenkung in die Kunst U-Bahn zu fahren, hat etwas Ernüchterndes, ja Schockierendes – im Gegenzug kommt Mitreisenden die kollektive Invasion der Pirole in der Tram vor wie ein rätselhafter Flashmob.
Eine logistische Herausforderung ist der außerdem: 1300 Zuschauerinnen und Zuschauer müssen von A nach B und wieder zurückgebracht werden, außerdem je gut 100 Mitglieder von Chor und Orchester mitsamt umfangreichem Instrumentarium. Das dauert. Aus dem gut vierstündigen Stück wird ein gut achtstündiges Spektakel, und zu schaffen ist der Umzug obendrein nur, weil das vierte Bild („Der wandernde Engel“) als bloße Konserve präsentiert wird.

© MARTIN SIGMUND/Martin Sigmund
Mit MP3-Playern bewaffnet, die Klänge von Solisten und Orchester im Ohr, pilgert man wie in der Oper die Franziskanerbrüder den Berg empor, vorbei an Statisten in Engelskostümen, und das Tirilieren der echten Vögel begleitet einen bis hoch zur Freilichtbühne. Daran, dass die Vogelpredigt in Messiaens‘ Version sehr, sehr lang ist und jede Regie entweder kapitulieren oder zu hilflosen Gesten und Handlungen greifen lässt, ändert der Ort nichts. Aber immerhin macht er das vorprogrammierte theatralische Scheitern poetischer.
Gespreizte Klangfarben und Tonhöhen
Man kann diese teils wunderschöne, teils spröde, zwischen irisierenden Klangflächen und komplexer Polyphonie changierende Musik auch deshalb genießen, weil die Präsentation sehr sinnlich ist. Das liegt am Dirigenten Titus Engel, der das Stuttgarter Staatsorchester mitsamt dreier virtuos koordinierter Marimbaspieler nicht nur zu großer Präzision anleitet, sondern auch die weite Spreizung der Klangfarben und Tonhöhen auskostet, den Sog der Wiederholungen, die besondere Atmosphäre der verwendeten Kirchentonarten, die Magie des Opulenten.
Hinzu kommen sehr gute Solisten, allen voran die Sopranistin Beate Ritter als höhensicherer Engel, der Tenor Moritz Kallenberg als sehr klar intonierender Aussätziger und, vor allem, der Bariton Michael Mayes, der bei seinem Debüt in der Titelpartie zwar in der Höhe zuweilen an Grenzen stößt, dem Franziskus aber packende Emphase beigibt.
Zwischendurch wagt er auch mal ein zackiges Tänzchen, und überhaupt findet die Regisseurin sprechende Bilder. Mit dem das Publikum umstellenden Chor wird das Opernhaus beim „Heilig! Heilig! Heilig!“ zum Kirchenraum. Anfangs wird (Hallo, Beuys!) ein toter Hase beerdigt, am Ende Franziskus.
Der entpuppt sich dann aber, von einem projizierten Video inspiriert, als Gottesanbeterin (oder Libelle?) und schwebt mit ausgebreiteten Flügeln gen Schnürboden – mit der paradoxen Wirkung, dass das kitschgefährdete Zuviel des Finales gleichzeitig überhöht und abgemildert wird.
Zuvor erlebt man Gott, gesungen vom Chor, als rätselhaften, durchaus bedrohlichen Schleimpilz-Blob (katholikentagstauglich ist diese Inszenierung nicht). Von seinem Auftritt künden zuvor schon gelbe Häkelseile im Park. Und am Ende ist bei diesem Opern-Event alles irgendwie vernetzt. Erschöpfung, Heimfahrt. Lange geschlafen und vom Gesang der Nachtigall aufgewacht. Oder war’s doch die Lerche?
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