
© Camille Blake
Paare, Gruppen, Scharen: Die Eröffnung des Jazzfests Berlin 2023
Und dazu ein Kinderchor: Mit dem französischen Projekt „Apparitions“ hat das Festival einen ersten Höhepunkt gefunden.
Stand:
Musizierende Gestalten, die sich im zaghaft aufgehenden Bühnenlicht aus dem Dunkel schälen und gleich wieder darin verschwinden. Ein französisches Jazzquartett namens Novembre, das ein Stück nach dem anderen ansagt, nach einer Sekundenblüte des jeweiligen Themas aber schon wieder zum Ende kommt. Ein weiteres Jazztrio namens Bribes, das erst einmal draußen vor der Tür Krach schlagen muss, bevor es Einlass findet. Drei Cellistinnen, die dem, was die Jazzer an Unruhe verbreiten, mit stoischem Bogenstrich entgegentreten.
Und, als wäre dies der Klangschichten nicht genug, vom Himmel der Empore her, ein Kinderchor, der sich den ariosen Melodien der Sängerin Linda Olah ätherisch anschmiegt, wenn er beim kurz angebundenen Phrasenwechsel unten auf der Bühne nicht leidenschaftlich mittut und mitklappert.
„Apparitions“ heißt der Abend, den die beiden Köpfe von Novembre, der Pianist Romain Clerc-Renaud und der Altsaxofonist Antonin-Tri Hoang, komponiert und konzipiert haben. Er ist, wie der Name sagt, ein Fest der Erscheinungen, geisterhaft und in tagheller Schärfe. Ein Reigen wiederkehrender Motive, die unter den beteiligten Gruppen immer wieder neu ausgehandelt werden.
Punkt setzt sich hier gegen Fläche, Konstruktion gegen Destruktion, der Bruch gegen die Überblendung. Wobei, wenn die Kinder dem Publikum bei der Prozession zur Hauptbühne mit ihren Taschenlampen ins Gesicht leuchten, auch von einer buchstäblichen Blendung die Rede sein könnte.
Vergnügen mit gewissem Pathos
Was am Eröffnungsabend des Jazzfests mit seinem grandiosen Stop-and-Go, dem Aufflammen und Ersticken von swingenden Jazzritualen, das gesamte Haus der Berliner Festspiele in Atem hält, ist zunächst ein großes theatrales Vergnügen. Mit der Zeit aber halten eine Schönheit und eine Würde Einzug, die sich bis zum Pathos steigern. Aus den Trümmern der kontrollierten Kollisionen steigen zauberische Linien die sich von keiner Partei dazwischenfunken lassen wollen, obwohl auch ihnen keine Dauer vergönnt ist.
Die „Apparitions“, die Anfang des Jahres beim Festival Sons d’hiver in Arcueil Premiere feierten, sind keine wilde Materialschlacht, die mit Nadin Deventers Idee, die Grundkonstellation um die Mädchen der Berliner Singakademie und die Kapellknaben des Staats- und Domchors zu erweitern, in jenen kuratorischen Irrsinn umschlägt, aus dem zu viele sogenannte Projekte geboren werden.
Die Überbietungsgeste bietet dem allzu Ausgefuchsten sogar Paroli, indem es die jazzungewohnten Kinder zum Teil eines alle einbegreifenden Staunens macht, in dem noch ein Rest ursprünglicher Naivität mitschwingt.
Tonnenschwere Blöcke
Dass es danach dem Ehepaar Alexander von Schlippenbach und Aki Takase an zwei Flügeln (und vierhändig an einem Instrument) gelingt, die Spannung zu halten, spricht für eine Kraft ihrer Musik, die sich nicht allein durch deren Schroffheit erklären lässt. Da kanten zwei mit den ungebremsten Energien des europäischen Free Jazz vertraute, international berühmte Lokalgrößen tonnenschwere Blöcke in die Tastatur, wälzen sie voreinander her und ringen um tektonische Verschiebungen.
Aus welchen musikhistorischen Stollen sie das Material zutage fördern, ist dabei zweitrangig: Es kann aus eigener Produktion stammen, von Schlippenbachs Kompositionslehrer Bernd Alois Zimmermann, von Johann Sebastian Bach, dessen C-Moll-Präludium im Wohltemperierten Klavier sie in eine dampfende und stampfende „Bachfactory“ verwandeln. Oder von der gerade verstorbenen Carla Bley, der Aki Takase mit einer gleichermaßen herben wie zärtlichen Interpretation von „Ida Lupino“ huldigt.
Mit zusammen 160 Jahren, von denen Schlippenbach schon 85 auf dem mittlerweile schwer gekrümmten Buckel trägt, ohne dass es die Finger verraten, haben auch sie noch die Neugier von Kindern. Und einen Spaß an der Freud, der mit einem „Bavarian Calypso“ als Zugabe geradewegs in die Beine geht.
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