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Willy Brandt beim Amtseid am 21. Oktober 1969 im Bundestag in Bonn

© AFP/EPU Files

50 Jahre Bundeskanzler Willy Brandt: „Mehr Demokratie wagen“ – Worte mit später Wirkung

„Wir wollen mehr Demokratie wagen“, sagte Willy Brandt bei seiner ersten Regierungserklärung. Doch der Satz fiel damals gar nicht weiter auf. Ein Rückblick.

Von Hans Monath

Als der Tagesspiegel am 29. Oktober 1969 die Regierungserklärung Willy Brandts vom Vortag würdigte, schenkte er dessen Satz „Wir wollen mehr Demokratie wagen“ kaum Bedeutung. Die Zeitung stand nicht alleine mit ihrer Indifferenz gegenüber dieser Ankündigung des ersten sozialdemokratischen Kanzlers, die er im Bundestag nach knapp drei Minuten aussprach, ohne dass der Saal darauf hörbar reagiert hätte.

Als weit provozierender empfand die CDU/CSU-Opposition seinen Appell „Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein und werden – im Inneren und nach außen!“ Erst im Nachhinein wurde die Ankündigung, mehr Demokratie „wagen“ zu wollen, zu einem der bekanntesten Politiker-Zitate und zur Chiffre für die Reformen, die Ende der 1960er und zu Beginn der 1970er Jahre Westdeutschland verändern sollten.

In der ersten großen Gesamtdarstellung der bundesdeutschen Geschichte bezeichnete der Politikwissenschaftler Wolfgang Jäger im Jahr 1986 Brandts Rede als ein „Manifest des Neubeginns“ und als die bis dahin „hochfliegendste Regierungserklärung“ eines Kanzlers. Sein Konzept sei „ein Gegenentwurf zum christdemokratischen Politikverständnis“ gewesen und habe in einem „zuweilen pathetischen Bekenntnis zur Demokratisierung von Staat und Gesellschaft“ gegipfelt, urteilte ebenso der Zeithistoriker Edgar Wolfrum in seinem 2006 erschienenen Buch „Die geglückte Demokratie“.

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Schon die große Koalition hat wichtige Reformen angestoßen

Inzwischen haben Historiker genauer geklärt, ob die Liberalisierung der Bundesrepublik tatsächlich erst mit der sozialliberalen Koalition anfing. Es dürfe „als Konsens der zeitgeschichtlichen Forschung gelten, dass die Phase der ,zweiten Gründung der Bundesrepublik’ nicht erst 1968/69 begann“, heißt es in dem von Axel Schildt und Wolfgang Schmidt herausgegebenen, neu erschienenen Band „,Wir wollen mehr Demokratie wagen.’ Antriebskräfte, Realität und Mythos eines Versprechens“. Denn schon die große Koalition von Union und SPD habe wichtige Reformen angestoßen.

Als Beispiele für die Erweiterung der Bürgerrechte und den Ausbau politischer und sozialer Teilhabe unter Brandt nennen Schildt und Schmidt die Senkung des Wahlalters und der Volljährigkeit, die Öffnung des Zugangs zu höherer Bildung für breite Bevölkerungsschichten, den Ausbau der betrieblichen Mitbestimmung, die Humanisierung des Strafrechts, die rechtliche Förderung der Gleichstellung der Geschlechter, die Akzeptanz sexueller Selbstbestimmung sowie das Vorgehen gegen Denkmuster und Hierarchien aus obrigkeitsstaatlichen Zeiten.

Mit Brandt verbunden ist aber auch der Radikalenerlass von 1972, der Verfassungsfeinde aus dem Staatsdienst fernhalten sollte. Er erschwerte den Versuch erheblich, die 68er-Bewegung für die westdeutsche Demokratie zu gewinnen.

Zum Mythos der „Ära Brandt“ hat auch der Umstand beigetragen, dass seine Kanzlerschaft nur eineinhalb Jahre nach seiner triumphalen Wiederwahl 1972 mit dem Rücktritt tragisch endete. Das ändert nach dem Urteil von Wolfgang Schmidt und seines verstorbenen Historikerkollegen Axel Schildt aber nichts daran, dass Brandts Satz auch heute, 50 Jahres später noch immer wirkmächtig sei als „Anstoßgeber für und Verstärker von gesellschaftlichen Demokratisierungsbestrebungen“.

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