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50.000 Demonstranten in 90.000-Einwohner-Stadt: AfD-Treffen sorgt für Ausnahmezustand in Gießen
Das hessische Gießen steht vor einem ungemütlichen Wochenende. Zehntausende Demonstranten werden erwartet. Ihr Ziel: die AfD blockieren. Wie bereiten sich Stadt und Polizei vor?
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Geschlossene Geschäfte, schulfrei, abgesagte Fußballspiele. Der anstehende Gründungskongress der neuen AfD-Parteijugend sorgt am Wochenende für einen Ausnahmezustand in Gießen. Mehr als 200 Reisebusse aus der gesamten Bundesrepublik werden erwartet, die Gegendemonstranten in die hessische Universitätsstadt bringen sollen. Hinter der Organisation steckt vor allem das Bündnis „widersetzen“, das bereits im Januar den AfD-Parteitag im sächsischen Riesa durch überwiegend friedliche Blockaden erheblich störte.
Gießens Oberbürgermeister Frank-Tilo Becher (SPD) appellierte am Donnerstag an Teilnehmer von Gegenprotesten, friedlich zu bleiben. „Die Grenze des Erträglichen ist dort überschritten, wo zu Gewalt aufgerufen oder Gewalt eingesetzt wird“, sagte das Stadtoberhaupt.
Man blicke mit Anspannung auf das Wochenende, für das mittlerweile rund 30 Versammlungen mit rund 50.000 Teilnehmern angekündigt seien. Gießen selbst hat etwa 90.000 Einwohner. Zuvor hatte sich bereits Hessens Innenminister Roman Poseck (CDU) wegen der erwarteten Ereignisse in Gießen besorgt gezeigt und vor allem mit Blick auf Gewaltaufrufe aus der linken Szene von einer „herausfordernden Großlage“ gesprochen.
Bundeswehr warnt Soldaten
Selbst die Bundeswehr hat vor möglichen Angriffen auf Soldaten und Soldatinnen am Rand der Protestaktionen gegen den Gründungsparteitag gewarnt. In einem eilig verschickten Rundschreiben heißt es, man erwarte wegen der vielen Demos eine „erhöhte Gefährdung der militärischen Sicherheit“, deswegen sollen sich vor allem Soldaten in Uniform besonders vorsichtig verhalten, berichtet der „Spiegel“.
Seit Monaten bereitet sich die hessische Polizei auf das Wochenende vor. Unterstützung komme aus fast allen Bundesländern, unter anderem mit Drohnen, Hubschraubern, einer Reiterstaffel und Wasserwerfern, heißt es aus dem Innenministerium. Insgesamt sollen bis zu 6000 Polizeikräfte im Einsatz sein. Proteste in der Nähe der AfD-Veranstaltung wurden im Vorfeld verboten, um Zusammenstöße zu verhindern. Einige dieser Verbote wurden jedoch bereits vom Verwaltungsgericht gekippt.
Parallelen zu Riesa
Die Initiative „widersetzen“ plant eine großflächige Blockade der Anreise zur Hessenhalle, in der die AfD ihre Veranstaltung abhalten will. Das Gelände liegt westlich des Flusses Lahn, weshalb die hessische Polizei bereits zahlreiche Brückensperrungen bekannt gegeben hat. Blockadeaktionen sollen bereits um sechs Uhr morgens im gesamten Gießener Stadtgebiet starten.
Ähnlich ist „widersetzen“ bereits im Winter in Riesa vorgegangen. Die Aktivisten blockierten teilweise über mehrere Stunden fast alle Zufahrtswege in die sächsische Stadt und verzögerten mit der Aktion damals erheblich den Beginn des AfD-Parteitags.
Die Polizei wirkte oftmals überrascht, auch weil die ankommenden Reisebusse nicht bis zu den abgesprochenen Parkplätzen vorfuhren. Stattdessen verließen Aktivisten teilweise schon auf Bundes- und Landstraßen weit vor der Stadtgrenze Riesas die Busse, um schließlich mehrere Kilometer zu Fuß über Felder zu laufen. Es kam immer wieder zu hektischen Katz-und-Maus-Spielen mit den Einsatzkräften. Zu einem ähnlichen Szenario könnte es in Gießen kommen.
Geschlossene Läden in der Innenstadt
Währenddessen zeigen sich Händler und Betreiber des Gießener Weihnachtsmarkts besorgt. Wie das Portal „Gießen Aktuell“ berichtet, planen zahlreiche Ladeninhaber in der Innenstadt aus Sorge vor Ausschreitungen, ihre Geschäfte am Wochenende geschlossen zu halten. Auf dem Weihnachtsmarkt im Zentrum werde damit gerechnet, dass nur jede zweite Bude eröffne.
Und jetzt ist so eine Stimmung entstanden, in der eine Angst vor den Gegendemonstrationen die Stadt beherrscht.
Simone Sterr, Intendantin des Stadttheaters Gießen
Bereits am Freitag wurde in der Stadt die Schulpflicht aufgehoben. Doch statt die Chance des freien Tags zu nutzen, versammelten sich Hunderte Schüler zu einem gemeinsamen „Schulstreik“ gegen die AfD-Veranstaltung auf der Straße. In der Hessenliga wurde das Spiel des FC Gießen aus Sicherheitsgründen abgesagt. Veranstaltungen in anderen Städten im Rhein-Main-Gebiet finden nicht statt, weil die Organisatoren selbst zu den Gegenprotesten nach Gießen mobilisieren.
Zu viel Aufmerksamkeit auf dem Gegenprotest?
Auch das Stadttheater Gießen sagt kurzfristig alle Vorstellungen ab. Allerdings aus einem anderen Grund. „Hier ist wirklich ein Klima der Furcht entstanden“, sagte Intendantin Simone Sterr der „hessenschau“ im Interview. Dabei sei verloren gegangen, worum es eigentlich ginge: „Nämlich um ein friedfertiges Zeichen gegen Faschismus. Und jetzt ist so eine Stimmung entstanden, in der eine Angst vor den Gegendemonstrationen die Stadt beherrscht.“
Tatsächlich beherrschten in den vergangenen Wochen vor allem die Sorge vor möglichen gewaltsamen Ausschreitungen durch die Antifa die lokalen Schlagzeilen, angeheizt durch Rechtsaußen-Populisten wie den Publizisten Matthias Matussek, der auf X schrieb: „Die #Antifa zieht 40.000 Bodentruppen zusammen, um #Gießen zum Brennen zu bringen.“
Darüber hinaus warnten auch die Polizei und Hessens Innenminister vor möglichen gewaltbereiten Aktivisten. Dem widerspricht das Bündnis „widersetzen“ deutlich: „Unser Aktionskonsens besagt ganz klar, dass von uns keine Eskalation ausgehen wird“, sagte ein Sprecher der „taz“. Tatsächlich waren die „widersetzen“-Aktivisten in der Vergangenheit vielmehr durch Sitzblockaden, als durch Gewalt aufgefallen.
Die ehemalige AfD-Jugendorganisation „Junge Alternative“ war nach einem Parteitagsbeschluss im Frühjahr aufgelöst worden. Der weitgehend eigenständige Verein wurde vom Verfassungsschutz als erwiesen rechtsextrem eingestuft. Der künftigen Parteijugend kann in der Regel nur angehören, wer auch in der AfD ist. Die Organisation soll ein rechtlich unselbstständiger Teil der Partei werden und am Wochenende auch formell gegründet werden. (mit dpa)
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