Politik: An den Grenzen der Sicherheit
Von Gerd Appenzeller Es sind diese quälenden Fragen nach dem „Was wäre gewesen, wenn…“, die die Eltern der bei der Flugzeugkatastrophe über dem Bodensee so furchtbar ums Leben gekommenen Kinder in allem Leid noch zusätzlich quälen. Was wäre gewesen, wenn der Schweizer Fluglotse früher gewarnt hätte.
Von Gerd Appenzeller
Es sind diese quälenden Fragen nach dem „Was wäre gewesen, wenn…“, die die Eltern der bei der Flugzeugkatastrophe über dem Bodensee so furchtbar ums Leben gekommenen Kinder in allem Leid noch zusätzlich quälen. Was wäre gewesen, wenn der Schweizer Fluglotse früher gewarnt hätte. Wenn sein Kollege sich nicht unerlaubt in eine Pause entfernt hätte. Wenn auf dem Flughafen Zürich-Kloten das automatische Kollisionswarnsystem nicht ausgeschaltet gewesen wäre. Wenn der russische Pilot schneller auf die Warnung aus dem Tower reagiert hätte.
Wenn, warum, falls… Schlimm genug, dass durch den Zusammenstoß in 11300 Meter Höhe 71 Menschen in den Tod gerissen wurden. Aber dieses Unglück wirkt so vermeidbar, so wenig schicksalhaft, wie es sonst immer wieder Flugzeugabstürze sind. Nein, das alles sieht tatsächlich grausam nach einer Verkettung außerordentlich unglücklicher Umstände aus, wie es der Sprecher der Schweizerischen Luftüberwachung Skyguide, Patrick Herr, benannte. Ohne dem Ergebnis der Untersuchungen vorgreifen zu wollen, wird die Lehre aus dem nächtlichen Alptraum über dem Bodensee vermutlich sein, dass Vorschriften verschärft und verändert, Verfahrensweisen überprüft und technische Geräte modifiziert werden. Aber außerordentlich unglückliche Umstände heißt eben auch: Es hätte nicht passieren müssen.
Dass im dreidimensionalen Raum zwei mit einer Geschwindigkeit von 900 Stundenkilometern fliegende Objekte kollidieren, ist außerhalb jeder Wahrscheinlichkeit. Hätten die Piloten nicht auf die Fluglotsen vertraut, sondern wären eigenverantwortlich nach der Verkehrssituation geflogen, wie sie sich auf dem Bordradar darstellte, hätten sie im Funksprechverkehr ihre Routen abgestimmt und nichts wäre passiert. So wird heute noch in großen Teilen der Welt geflogen.
Nicht in Europa, dessen Luftraum als extrem gut überwacht und koordiniert gilt. Deshalb vertrauen die Piloten ja hier auch fast blind den Anweisungen der Fluglotsen. Was sollten sie auch anderes tun in einem Gebiet, in dem so viele parallele Flugbewegungen stattfinden, dass tatsächlich nur noch die Bodenkontrolle den Überblick behalten kann. Dafür gibt es zugewiesene Luftstraßen und Flughöhen, eine dichte Staffelung nicht nur nach dem Start und vor der Landung, sondern auch während des Reiseflugs selbst. Die vom Flughafen Zürich überwachte Region einschließlich des deutschen Grenzgebietes gehört, neben den Großräumen Frankfurt, London und Amsterdam, zu den am stärksten frequentierten Flugzonen des Kontinentes.
Aber in der Nacht vom Montag zum Dienstag war das alles anders. Im schweizerischen Luftraum befanden sich ganze fünf Maschinen. Zwei davon stießen zusammen. Von Überlastung der Fluglotsen, Stress der Piloten, Engpässen konnte überhaupt keine Rede sein. Der Unfall 11300 Meter über dem Bodensee hätte jederzeit passieren können – aber nicht zu dieser Zeit.
Die Luftfahrt wird aus diesem vermeidbaren Unfall lernen. Natürlich stellt sich die Frage, ob die automatischen Warnsysteme möglicherweise nicht korrekt funktioniert haben. Ob es in der russischen Maschine fehlerhaft war, ob das System in der deutschen Maschine nicht hätte erkennen müssen, dass das andere Flugzeug ebenfalls den Sinkflug eingeleitet hatte. Aber es muss vor allem um das Ende der europäischen Kleinstaaterei bei der Flugüberwachung gehen. Die Schweiz leistet sich eine eigene Flugüberwachung, Österreich natürlich ebenfalls. Auch der Rest Europas gleicht einem Flickenteppich. Die Boeingmaschine überflog in der Unglücksnacht die Schweiz in Nord-Süd-Richtung in weniger als zehn Minuten. Zürich-Control übernahm die russische Maschine von der Münchner Flugüberwachung fünf Minuten vor der Grenze. Fünf Minuten, das sind 75 Flugkilometer. Beim Tempo der modernen Passagierflugzeuge ist eine sich an den nationalen Grenzen orientierende Luftüberwachung anachronistisch. Diese Grenzen bieten keine Sicherheit, sie werden zum Risikofaktor. In der EU gibt es mit Eurocontrol eine zentrale Stelle, die die Start- und Landezeiten zuteilt. Da geht es um Geld. Bei einer zentral organisierten Flugüberwachung zögern viele Staaten noch. Das ist der eigentliche Skandal.
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