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Ein libanesischer Polizist bewacht eine Bank, in das Kunden eindrangen, um an ihr Geld zu kommen.

© Foto: picture alliance/dpa/AP

„Bis ich mein Geld bekomme“: Wenn Libanesen ihre Bank überfallen

Der Libanon leidet unter einer schweren Wirtschaftskrise. Viele Menschen kommen nicht an ihr Erspartes – und greifen zu drastischen Mitteln

Von
  • Alexander Karam
  • Valentin Dreher

Stand:

Cynthia Zarazir hätte sich nie vorstellen können, dass sie einmal eine Bank erpressen würde. Die 40-Jährige mit den hellbrauen Haaren ist Absolventin einer amerikanisch-libanesischen Universität mit einem Abschluss für audiovisuelle Medien, arbeitete als Fotografin und Fernsehproduzentin. Seit Mai ist sie parteiunabhängige Abgeordnete im libanesischen Parlament. Damit gehört sie zur Mittelschicht des Landes.

Vergangene Woche betritt Zarazir ihre Bank nördlich von Beirut, um die Freigabe von 8500 Dollar zu fordern. Es ist ihr Erspartes. „Ich werde nicht gehen, bevor ihr mir mein Geld auszahlt”, verkündet sie den Mitarbeitern am Schalter. So wird es ihr Anwalt Fouad Debs später berichten, der sie in die Filiale begleitet.

Zarazirs Druckmittel: Straßenproteste und Medienaufmerksamkeit. Die Bank nimmt die Drohung ernst und riegelt die Filiale ab. In den nächsten fünf Stunden wird niemand das Gebäude verlassen oder betreten. Es beginnt eine zermürbende Verhandlung zwischen Zarazir und dem Bankdirektor.

Die Wirtschaftskrise im Libanon sei eine der weltweit schlimmsten, sagt die Weltbank

Seit Wochen versucht Zarazir, Geld für einen medizinischen Eingriff abzuheben, den sie dringend benötigt. Ein Vorhaben, das seit Ende 2019, dem Beginn der schweren Wirtschaftskrise im Libanon, aussichtslos ist: Die Banken zahlen Sparern nur wenige Hundert Dollar pro Monat aus.

In der aktuellen Wirtschaftskrise, die laut Weltbank „eine der weltweit schlimmsten seit Mitte des 19. Jahrhunderts“ ist, verloren die meisten Libanesen Zugriff auf ihre Ersparnisse.

Das Bankensystem ist zusammengebrochen, die Menschen verarmen

Der Zusammenbruch des Bankensystems, ausgelöst durch ungedeckte Schulden und abgesprungene Investoren, trieb fast 80 Prozent der Bevölkerung in ein Leben unterhalb der Armutsgrenze.

Es ist nicht die einzige Krise, die das Land ins Chaos stürzt. Weite Teile Beiruts wurden durch die Hafenexplosion im Sommer 2020 zerstört, es gibt stundenlange Stromausfälle, die Korruption grassiert.

Betroffen sind nicht nur die Ärmsten, sondern auch die einst Gutsituierten, die stolz sind auf ihre gute Bildung und einen westlichen Lebensstil. Viele Libanesen haben jahrelang in Europa oder Nordamerika gearbeitet. Das dort verdiente Gehalt liegt nun unerreichbar auf libanesischen Konten.

Die Abgeordnete Cynthia Zarazir will 8500 Dollar von ihrem Sparkonto abheben. Die Bank weigerte sich anfangs, das Geld herauszugeben.

© Foto: picture alliance/dpa

Um es zurückbekommen, entschließen sich einige von ihnen zu Protestaktionen wie der von Zarazir, teilweise mit noch drastischeren Mitteln. Allein in der vergangenen Woche gab es zehn Banküberfälle, in denen Einleger mit Spielzeugpistolen oder echten Waffen ihr Geld „abhoben” oder es zumindest versuchten.

Während Zarazir mit dem Bankdirektor über die Freigabe ihres Ersparten verhandelt, versammeln sich im Westen Beiruts etwa 80 Unterstützer der Vereinigung „Cri des déposants” (deutsch: Aufschrei der Einleger).

Ich gehe solange protestieren, bis ich mein Geld bekomme oder sterbe.

Die 80-Jährige Souad Sakakini

Ihr Logo ist eine Zielscheibe. Zu dieser wird jetzt die dortige Zentralbank des Libanon. Über den hohen Metallzaun fliegen Molotowcocktails, vor dem Eingangstor brennen Autoreifen, Demonstrierende skandieren „Diebe, Diebe“.

Als Polizisten versuchen, die Versammlungsteilnehmer von den Flammen abzudrängen, greift sich Souad Sakakini das Mikrofon: „Ich gehe so lange protestieren, bis ich mein Geld bekomme oder sterbe“, sagt die 80-Jährige.

Viele Menschen im Libanon sind unter die Armutsgrenze gefallen und sind verzweifelt.

© AFP / Foto: AFP/Joseph Eid

Auch sie versuchte Anfang des Jahres erfolglos, eine größere Menge an Geld für medizinische Zwecke abzuheben. Heftig gestikulierend beschuldigt sie nun Politiker und Bankiers, ihr den Zugang zu lebenslangen Ersparnissen zu verwehren.

Zum Kollaps des Finanzsektors führte ein Schneeballsystem. Da das libanesische Pfund mit einem festen Wechselkurs an den Dollar gebunden war, benötigte die Zentralbank ausreichend Devisen zur Deckung der lokalen Währung.

Ausländische Geldgeber verloren das Vertrauen, das Finanzsystem brach zusammen

Auch die Regierung war zur Bezahlung von Energieimporten auf Dollar angewiesen. Mit außergewöhnlich hohen Zinsen lockten die Banken immer mehr Sparer, Dollar auf ihr Konto einzuzahlen. Die Zinsen bezahlte die Zentralbank, indem sie sich immer höher verschuldete.

Doch infolge der Massenproteste im Oktober 2019 verloren ausländische Geldgeber das Vertrauen. Das auf stetige Geldzuflüsse aus dem Ausland angewiesene Finanzsystem brach zusammen, die Banken im Land wurden zahlungsunfähig. Die Bankenvereinigung betont, dass diese „systemische Krise” außerhalb ihrer Verantwortung liege.

Das sieht die Einlegervereinigung „Cri des déposants” anders. Rami Ollaik, einer ihrer Anwälte, plant nun gemeinsam mit Bankkunden weitere bewaffnete Überfälle. „Ich hatte gerade erst einen Vater mit seinem Sohn in meinem Wohnzimmer sitzen, die es tun wollen.”

Ein Anwalt ist sich sicher: Das Stürmen einer Bank ist juristisch als Notwehr zu rechtfertigen

Solche Aktionen würden das „Gleichgewicht des Terrors” zwischen Banken und Sparern wiederherstellen. Ollaik ist davon überzeugt, dass sich das Stürmen einer Bank juristisch als Notwehr rechtfertigen lässt.

Die Abgeordnete Zarazir glaubt nicht, dass sich mit Gewalt das Problem lösen lässt. „Friedliche Mittel sind für mich immer die erste Wahl.” Und so gleichen die Verhandlungen innerhalb der Bank an diesem Tag eher einem Geschäftstreffen als einem Banküberfall.

Zwischendurch ist zu beobachten, wie Zarazir im Foyer der Bank rastlos auf- und abläuft. Der Bankdirektor habe sich geweigert, auf ihre Forderungen einzugehen: „Das Warten hat mich wütend gemacht”, sagt sie.

Doch es hat sich gelohnt. Am frühen Nachmittag kann die Abgeordnete die Filiale mit dem nötigen Geld verlassen – unter der Bedingung einer Schweigepflicht. Vor der Bank spricht sie dennoch zu ihren Unterstützern. „Wir sind hier, um unsere Rechte einzufordern – die Gerechtigkeit stirbt nicht.“

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