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Probelauf für erste Impfstoffe gegen Covid-19. Es geht dabei auch ums Geschäft. Ist das richtig so?

© dpa

Covid-19 als UN-Aufgabe: Wenn die ganze Welt dasselbe Medikament braucht

Im 75. Jahr ihres Bestehens können UN und WHO erstmals für alle Menschen ihren Zweck beweisen - und einen Impfstoff global zugänglich machen. Ein Gastbeitrag.

- Kerstin Leitner war fast 30 Jahre bei den UN tätig und zuletzt Beigeordnete Generaldirektorin der WHO.

Die Covid-19-Pandemie hat für vielen Menschen wieder mal den Nutzen der Organisationen der Vereinten Nationen (UN) infrage gestellt. Dieses Mal machte sich die Kritik an der Weltgesundheitsorganisation WHO fest, aber der Tenor der Kritik ist immer ähnlich, egal, um welche Organisation des UN-Systems es geht.

Am häufigsten wird den Organisationen vorgeworfen, dass sie internationale Probleme nicht erfolgreich lösen, dass sie parteiisch die Interessen von nur einigen Mitgliedsländern vertreten, und dass es riesige Bürokratien sind, die ineffizient arbeiten.

Inwieweit diese Kritik berechtigt ist, darüber entscheiden auch die realen politische Bedingungen, die die Mitarbeiter berücksichtigen müssen. Denn die Organisationen arbeiten nicht im machtpolitischen Vakuum, sondern sind Bestandteil von machtpolitischen Auseinandersetzungen.

Während sich die Auseinandersetzungen im Lauf der vergangenen 75 Jahre mehrfach dramatisch geändert haben, und zurzeit wieder im Umbruch sind, blieben die Erwartungen an die UN-Organisationen immer gleich: zügig kollektive Lösungen zustande bringen, um allgemeinen Frieden und menschliches Wohlergehen in allen Ländern zu sichern.

Ist es angesichts eines erstarkenden Nationalismus realistisch, dass die Organisationen den Spagat zwischen nationalen Interessen und der Notwendigkeit kollektiver Aktion meistern können?

Auch ohne die USA kann die WHO jetzt ihre Stärke zeigen

Im Juni 1945 wurden die Vereinten Nationen in San Francisco von Vertretern aus 50 Ländern gegründet als ein Verein der Nationalstaaten, die sich verpflichteten durch kollektive Friedenssicherung und internationale Zusammenarbeit, den Lebensstandard aller Menschen anzuheben.

Die WHO wurde ein Jahr später geschaffen, um den „höchstmöglichen Gesundheitsstandard“ in allen Ländern zu fördern. Die Corona-Pandemie bietet eine ungewöhnliche Gelegenheit zu testen, ob die Mitgliedsländer diesem politischen Streben Taten folgen lassen werden oder nicht.

Der US-Präsident hat diese Frage mit dem Austritt seines Landes aus der WHO bereits beantwortet. Aber muss dies heißen, ohne USA geht nichts? Wohl kaum.

Von einem gesundheitspolitischen Standpunkt aus ist die US-Entscheidung zu bedauern, aber die anderen Staaten könnten sich trotzdem auf ein gemeinsames Vorgehen einigen. Dies ist insbesondere wichtig im Falle des Covid-19-Impfstoffes, an dem in mehreren Ländern mit Volldampf gearbeitet wird. Regierungen haben dafür Milliardenbeträge an Zuschüssen und Krediten zugesagt, und viele Millionen sind auch schon geflossen in Deutschland, den USA, China und anderen europäischen Ländern. Pharmaunternehmen haben sich über Grenzen hinweg zusammengeschlossen, und Politiker in Europa und China haben betont, dass sie einen Impfstoff global zur Verfügung stellen wollen.

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Allerdings haben sich die US-Regierung und vier europäische Länder, darunter Deutschland, schon 700 Millionen Dosen eines Impfstoffes von einer UK/US basiertem Pharmaverbund vorbestellt. Was bleibt dann für die anderen Länder?

Die Coronakrise herrscht weltweit, wie hier in Mexiko. Auch der Impfstoff wird weltweit gebraucht.
Die Coronakrise herrscht weltweit, wie hier in Mexiko. Auch der Impfstoff wird weltweit gebraucht.

© REUTERS

Schon einmal gab es eine globale Pandemie, die sich allerdings nicht so rasant und allgemein verbreitete wie Covid-19: die HIV/AIDS Pandemie. Schon einmal erreichten zivilgesellschaftliche Organisationen, dass das Internationale Abkommen zum Schutz von Intellektuellem Eigentum (TRIPS) im Bereich der Medikamentenherstellung geändert wurde, als die Welthandelsorganisation (WTO) 2001 in Doha Ausnahmen zum Patentschutz und der Vergabe von Lizenzen beschloss, die die Produktion und Verteilung von Medikamenten in den Gesundheitssystemen ärmere Länder ermöglichte.

Die WHO kann alle Regierungen an einen Tisch bringen

Ob diese Änderungen als Basis für die globale Verwendung eines Covid-19-Impfstoffes ausreichen, muss leider in Frage gestellt werden. Denn das nach Doha formulierte Zusatzprotokoll zum TRIPS-Abkommen ist bis heute nicht von einer ausreichenden Zahl der WTO-Mitglieder ratifiziert worden und somit auch nicht in Kraft getreten.

Der Weg zur globalen Bereitstellung eines Impfstoffes ist nur vorstellbar über zügig geführte Verhandlungen zwischen Regierungen, die an einer globalen Lösung interessiert sind, den Pharmaunternehmen, Nichtregierungsorganisationen wie „Ärzte ohne Grenzen“ und Wissenschaftlern.

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Um solche Verhandlungen erfolgreich zu führen, braucht es die WHO, denn sie hat die geographische Reichweite, das Fachpersonal, aber keine unmittelbaren eigenen Interessen. Sie kann also zu solchen Verhandlungen, möglicherweise in Zusammenarbeit mit der WTO, einladen, diese koordinieren und zu einem Ergebnis führen.

Darüber hinaus hat die WHO den Überblick über die 130+ Ansätze in der Welt, einen geeigneten Covid-19-Impfstoff zu entwickeln. Informationen fließen zwischen den Forschern im Moment relativ frei über nationale Grenzen hinweg, aber wird dies so bleiben, wenn Impfstoffe zugelassen und patentiert werden?

Patente sollten nicht an einzelne Firmen gehen

Die Bereitschaft Kompromisse einzugehen zwischen privatwirtschaftlichen, Pharmaindustrie, und öffentlichen Interessen, nationale Gesundheitswesen, ist unumgänglich, um national und international zu sozial gerechten Lösungen zu kommen. Diese sind natürlich nicht leicht zu definieren und wahrscheinlich auch nicht in einem Wurf.

Aber erste Entscheidungen über die Schaffung von Kapazitäten in Herstellerländern und Verbrauchsländern, das Setzen von Impfprioritäten, welcher Impfstoff wo und in welchen Mengen und zu welchem Preis zur Verfügung steht, müssen in den nächsten zwölf bis 15 Monaten getroffen werden, mit oder ohne die USA.

Einigung über Produktionsstätten in aller Welt nötig

Vielleicht kann das Konzept helfen, Impfstoffe zum „global public good“ zu erklären. Aber das bindend durchzusetzen, ist eine große Herausforderung. Denn entweder müsste der Weltsicherheitsrat einen entsprechenden Beschluss fassen oder die WHO eine internationale Konvention formulieren und von den Mitgliedsstaaten ratifizieren lassen. Für beides wird in diesem Falle keine Zeit sein.

Wofür allerdings Zeit sein sollte, ist, dass die Schaffung von Produktionskapazitäten in allen Regionen der Erde vereinbart wird, Patentrechte nicht den Firmen, sondern einem allgemeinen Patentpool zugeordnet werden, und auch bei Covid-19 die generellen Prinzipien der Doha-Erklärung gelten.

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Ein Patentpool könnte entweder von der WIPO oder einem Konsortium von nationalen Patentverwaltungen unter der Ägide von WIPO gemanagt werden. Ebenso kann die Schaffung oder Stärkung von staatlichen Institutionen für die technische Überwachung vereinbart werden, so dass vorgegebene Standards und Normen, die von der WHO bereits entwickelt wurden, überall eingehalten werden, sowohl für die klinischen Tests, wie auch später bei Produktion, Vertrieb und medizinischer Anwendung.

Wenn es gelingt, tatsächlich 2021 einen Covid-19 Impfstoff global bereitzustellen, wäre ein Riesenschritt getan, die augenblickliche Krise als Chance zu einer faireren Globalisierung zu nutzen. Wir hätten ein neues Verhältnis zwischen privaten und öffentlichen Interessen im internationalen Rahmen erreicht, wir sähen klarer, welche Rolle die WHO und andere UN-Organisationen spielen, ohne dass wir die Regierungen der Nationalstaaten aus der Verantwortung entlassen.

Und wir hätten eine bessere und klarere Vorstellung, wie privatwirtschaftliche (freier Handel und Auslandsinvestitionen) und öffentliche internationale Zusammenarbeit (Entwicklungspolitik) verzahnt sind, um global und national gemeinsam den „höchstmöglichen Gensundheitsstandard“ in allen Ländern zu gewährleisten.

Kerstin Leitner

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