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„Da gibt es eine Menge Fragen“: Warum wurde der Tatverdächtige von Solingen nicht abgeschoben?
Die Politik diskutiert, wie es zu dem Messer-Anschlag von Solingen kommen konnte und was daraus folgt. Die CDU fordert einen Aufnahmestopp aus Syrien und Afghanistan, die Regierung hält das nicht für verfassungskonform.
Stand:
NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) fordert nach dem Anschlag in Solingen Aufarbeitung innerhalb der Behörden. „Da gibt es eine Menge Fragen. Es sind auch eine Menge Behörden involviert. Das muss aufgeklärt werden, und da muss Klartext gesprochen werden, wenn da etwas schiefgelaufen ist“, sagte Wüst im Interview der „Aktuellen Stunde“ im WDR Fernsehen.
Der spätere Tatverdächtige von Solingen hat sich nach Angaben aus Behördenkreisen wohl gezielt seiner Überstellung nach Bulgarien entzogen - und kam damit durch. Der heute 26-jährige Syrer kam demnach am 25. Dezember 2022 nach Deutschland. Für sein Asylverfahren zuständig war nach den europäischen Dublin-Regeln aber Bulgarien. Bulgarien habe dieser Rückführung sehr schnell zugestimmt, sagte Regierungssprecher Steffen Hebestreit in Berlin.
Ein erster Versuch, den Mann nach Bulgarien zurückzuschicken, scheiterte am 3. Juni 2023, die Behörden trafen ihn in seiner Unterkunft in Paderborn nicht an. Normalerweise müssten dann weitere Versuche folgen. Die Ausländerbehörde müsste versuchen festzustellen, ob jemand möglicherweise untergetaucht ist. Auch ein Haftbefehl könnte ausgestellt werden.
Wenn einmal offiziell festgestellt ist, dass jemand untergetaucht ist, kann die normalerweise sechsmonatige Frist für eine Dublin-Überstellung - also eine Abschiebung in ein anderes, zuständiges europäisches Land - um zusätzliche zwölf Monate verlängert werden. Dies geschah im Fall des Syrers aber nicht.
Die Sechs-Monats-Frist lief den Angaben zufolge am 20. August ab. Vier Tage später ist der Mann demnach wieder aufgetaucht. Dies deute darauf hin, dass er gut über die Fristen und seine Rechte informiert gewesen sei, hieß es. Später wechselte er von der Flüchtlingsunterkunft in Paderborn nach Solingen.
Ich will das wissen, was da schiefgelaufen ist, wenn da was schiefgelaufen ist
NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst
Im ZDF „heute journal“ sagte Wüst zu den Erkenntnissen: „Wenn da irgendwo was schiefgelaufen ist, bei welcher Behörde auch immer, ob vor Ort in Bielefeld, in Paderborn oder bei Landes- oder Bundesbehörden, dann muss die Wahrheit da auf dem Tisch.“ Unter der Verantwortung des Bundesamts für Migration und Flucht seien viele Behörden damit beschäftigt. „Ich will das wissen, was da schiefgelaufen ist, wenn da was schiefgelaufen ist“, so Wüst.
Bereits am Nachmittag hatte Wüst bei einem Statement gesagt, dass es etwa noch offene Fragen zum Aufenthaltsstatus des mutmaßlichen Täters gebe. Im WDR sagte er, es stelle sich etwa die Frage, warum das Bundesamt nicht noch mal Druck gemacht habe, nach Bulgarien abzuschieben.
Wüst unterstützt Merz-Forderung nach Aufnahmestopp
Wüst stellte sich hinter die Forderung von CDU-Chef Friedrich Merz nach einem generellen Aufnahmestopp für Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan. „Ja, ich halte das für richtig. Ich habe schon vor vielen Monaten gesagt, wir werden das Thema Migration und Flucht nicht in den Amtsstuben der Kreisausländerbehörden regeln können“, sagte Wüst. Das zeige sich jetzt auch an der Komplexität. „Die markigen Ankündigungen des Bundeskanzlers „Abschieben im großen Stil“ hören die Menschen gerne. Aber dann muss auch was passieren.“
Die Bundesregierung hält Forderungen nach einem generellen Aufnahmestopp für Geflüchtete aus Syrien und Afghanistan für nicht verfassungsgemäß. „Das würde gegen das Grundgesetz und mutmaßlich auch gegen EU-Menschenrechtsverordnungen verstoßen“, sagte Regierungssprecher Steffen Hebestreit am Montag in Berlin. Er bezog sich dabei auf Forderungen von CDU-Chef Friedrich Merz, ohne diese allerdings ausdrücklich zu bewerten.
„Regierungen sind nie gut beraten, Verfassungsbruch zu begehen“, sagte Hebestreit dazu weiter. Er betonte die Bedeutung des individuellen Asylrechts als „eine der zentralen Errungenschaften des deutschen Grundgesetzes“. Daran wolle „niemand“ ernsthaft herangehen. Auf jeden Fall erkenne er „keine Bestrebungen von denjenigen, die die Regierung tragen, an diesem Grundgesetz-Artikel etwas zu ändern“.
Am Freitagabend waren bei einem Stadtfest in Solingen drei Menschen mit einem Messer getötet worden. Acht Menschen wurden verletzt, vier davon schwer. Mutmaßlicher Täter ist ein 26-jähriger Syrer. Die Bundesanwaltschaft ermittelt gegen ihn wegen Mordes und wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in der Terrormiliz Islamischer Staat (IS).
Innenminister Reul schlägt parteiübergreifende Gespräche vor
Nach dem Messeranschlag hat der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul (CDU) parteiübergreifende Gespräche über eine Begrenzung der Zuwanderung vorgeschlagen. Reul brachte dazu am Montag im Deutschlandfunk eine Art „Runden Tisch“ ins Gespräch – denn es sei „mittlerweile unbestritten“, dass Zuwanderung begrenzt werden müsse. Auch über eine Reform der Asylverfahren müsse gesprochen werden.
Warum die Abschiebung des Tatverdächtigen nicht erfolgt sei, könne er nicht sagen, sagte Reul. Als Innenminister sei er in NRW nicht für Abschiebungen zuständig, sondern seine Kabinettskollegin Josefine Paul von den Grünen, die das Ressort für Familie, Flucht und Integration innehat. Paul kümmere sich derzeit um die offenen Fragen.
„Ich glaube, es liegt nicht an einem einzelnen Vorgang, der da falsch gelaufen ist, sondern man muss auf das System gucken“, sagte Reul. Es müsse untersucht werden, „wie funktionieren bei uns Abschiebungen und wie kompliziert ist das in einem Rechtsstaat“.
In dem konkreten Fall seien offenbar Fristen verstrichen, um den Mann innerhalb der EU nach Bulgarien abzuschieben, wo er zuerst europäischen Boden betreten habe. Die Behörde habe versucht, ihn abzuholen, er sei aber nicht angetroffen worden. Der Mann sei aber „nicht untergetaucht“, sondern habe sich immer wieder in der Flüchtlingsunterkunft aufgehalten.
„Mein Eindruck ist, es ist kein Fehler im Verfahren, sondern wahrscheinlich eher die Frage, ob dieses ganze Verfahren so richtig ist mit Fristen, mit Abschiebungen und wann man was machen darf“, sagte Reul.
Der CDU-Politiker erwartet durch die beschlossene EU-Asylreform deutliche Verbesserungen. Es sei aber unklar, bis wann diese umgesetzt werde, sagte Reul. Bis dahin müsse es deshalb „stärkere Grenzkontrollen innerhalb Europas“ geben, auch an den deutschen Grenzen.
Handlungsbedarf sieht Reul auch bei den Befugnissen der Sicherheitsbehörden. „Da empfehle ich uns mal eine ehrliche Debatte über die Rechtslage, über die Gesetze, über die Möglichkeiten, über die Frage Datenschutz“, sagte Reul. Er beklagte hier eine „verquere und verklemmte Debatte“. Im Hinblick auf die Flüchtlingspolitik gibt es Reul zufolge einen politischen Vertrauensverlust in der Bevölkerung. Dieser liege auch darin, dass man Probleme viel zu lange nicht wahrhaben wolle.(dpa/AFP/epd)
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