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Egon Bahr auf dem Podium der Bundesstiftung Aufarbeitung

© dpa

DDR-Geschichte: Fünf Tage im Juni – und zwei Deutungen

Egon Bahr findet Stefan Heyms Roman über den 17. Juni 1953 "schrecklich". 60 Jahre nach dem Volksaufstand in der DDR gibt es neue Debatten über die Deutung der Geschichte.

Von Matthias Meisner

Nur für die einen war es ein sehr mutiges Buch. Stefan Heym hat in „Fünf Tage im Juni“ sein Bild gezeichnet von den Massenprotesten im Juni 1953 in der DDR, die am 17. dieses Monats mit Hilfe sowjetischer Panzer niedergeschlagen wurden. 1974 erschien der Roman, zunächst nur im Westen. Ost-Berlin hatte zu viele Änderungen am Text gefordert. Die Geschichte rund um den Gewerkschafter und Genossen Witte war nicht bequem. Der will in dem Buch keinen „Freibrief für all die Feiglinge, Dummköpfe, Schönfärber und Beamtenseelen, an denen es bei uns in der Partei nicht mangelt“. Und nicht hinnehmen, dass die Vertreter der führenden Klasse „stellvertretend nur noch sich selbst vertreten“.

Im Grunde habe Heym „die objektiv falsche Position von Ost-Berlin vertreten“, kritisiert jetzt Egon Bahr den 2001 gestorbenen Autor. Am Rande einer Veranstaltung der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur nennt Bahr dessen Buch gar „schrecklich“. Und das als Zeitzeuge: Denn 1953 war der spätere SPD-Politiker und enge Vertraute von Willy Brandt in West-Berlin Chefredakteur des Senders Rias. Rainer Eppelmann, Ex-DDR-Bürgerrechtler und heute Chef der Stiftung Aufarbeitung, schlägt auf dem Podium in die gleiche Kerbe. Er verstehe nicht, warum Heym zur Ikone stilisiert werde, meint er. Denn für Heym sei der Aufstand von 1953 entsprechend der DDR-Diktion „letztlich ein imperialistischer Putsch“ gewesen – garniert nur mit „ein bisschen Verständnis für die, die damals auf die Straße gegangen sind“. Naiv nennt Eppelmann den Schriftsteller, der in der DDR wegen mehrerer Buchtitel ins Visier der Stasi geraten ist und zur Unperson wurde. Dieser müsse „blind oder ein Ideologe“ gewesen sein. Gehört auch Eppelmann zu jenen, die Heym nie verziehen haben, dass er sich 1994 für die PDS in den Bundestag wählen ließ und in Bonn als Alterspräsident die Wahlperiode eröffnete?

Heyms Witwe Inge empört sich zunächst, als sie vom Tagesspiegel zu Bahr und Eppelmann befragt wird. „Das ist Quatsch“, fährt es aus ihr heraus. Dann aber relativiert sie und sagt, es verwundere sie gar nicht, dass es auch nach 60 Jahren verschiedene Sichten gebe – von der DDR-Version eines „faschistischen Putsches“ bis zur West-Version eines Volksaufstandes. Stefan Heym habe die Widersprüche der sozialistischen Gesellschaft „ganz richtig erkannt“, andererseits auch beschrieben, wie damals „sofort aus dem Westen eingegriffen“ und „auch manipuliert“ worden sei. Unbeliebt gemacht habe er sich so allgemein, weil er „beide Seiten nicht bedient“ habe. Erst „in den letzten Atemzügen der DDR“, wie Inge Heym sagt, erschien das Buch dann 1989 auch im Osten.

Dass auch seine Geschichtsversion Kritik auslöst, muss derweil auch Egon Bahr erleben. Der 91-Jährige berichtet, die amerikanischen Herren des Rias hätten zwar am 16. Juni 1953 die Berichterstattung über einen drohenden Generalstreik gestoppt. Dennoch habe der Sender „den Aufstand ausgelöst“, allerdings „ohne es zu wissen und ohne es zu wollen“. Der Historiker Jens Schöne, der gerade ein Buch zum Volksaufstand auf den Markt gebracht hat, sieht das anders. Die Rolle des Rias beschreibt er als „sehr ambivalent“. Die Unruhen in rund 700 Städten und Dörfern – insgesamt seien mehr als eine Million Menschen auf der Straße gewesen – erklärt er sich mit der „immer beschisseneren“ wirtschaftlichen Lage in der DDR, die SED-Führung habe über Monate „im Rausch des Klassenkampfes alle Warnzeichen übersehen“. Drahtzieher des Aufstandes im Westen wiederum habe selbst die Stasi nie ausfindig machen können – mutmaßlich, wie Schöne schlussfolgert, weil es sie gar nicht gab.

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