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Demjanjuk-Prozess: Zeugnis des Grauens

Sie dachten an Zwangsarbeit, aber es ging um Vernichtung. Von fast 3000 Menschen, die am 4. Juni 1943 mit Jules Schelvis in Sobibor ankommen, leben am Abend noch 81. Bei dem Massenmord soll John Demjanjuk geholfen haben. Der steht ab heute als Nazihelfer vor Gericht – und Schelvis vor einer letzten Aufgabe.

Nach Osten soll die Reise gehen, das hat man ihnen gesagt. Mehr nicht. Sie können ja nicht ahnen, was sie dort erwartet. Niemand hat je von Sobibor gehört.

Jules Schelvis ist einer von fast 3000 niederländischen Juden, die an jenem Junitag im Jahr 1943 aus Westerbork deportiert werden. Wie die anderen glaubt auch er, sie würden zur Zwangsarbeit in ein Lager gebracht.

Während er seine Frau Rachel auf dem Weg zum Bahnhof fest an der Hand hält, stellt er sich vor, wie es dort sein würde. Sicher würden sie hart arbeiten müssen. Aber abends könnte er vielleicht mit anderen Häftlingen am Feuer sitzen. Er hat seine Gitarre eingepackt.

Doch dann sehen sie den Zug. Viehwaggons, nur Viehwaggons. Jules und Rachel werden mit 60 anderen Menschen in einen Waggon gepfercht. Keine Matratzen, nicht einmal Stroh auf dem Boden. Die Türen werden geschlossen, der Zug setzt sich in Bewegung.

Am schlimmsten ist das Gefühl der Erniedrigung, erinnert sich Jules Schelvis. Wenn er heute über das Erlebte spricht, bleibt er wortkarg, hält sich an die Fakten, spricht nicht über Gefühle.

72 Stunden sind sie unterwegs, bis der Zug endlich hält. „SS-Sonderkommando Sobibor“ steht auf einem Schild. Endstation. Fast 3000 Menschen steigen hier an jenem trüben 4. Juni 1943 aus, Männer, Frauen, Kinder. Am Abend leben von ihnen noch 81. Das Kriegsende erlebt nur Jules Schelvis.

An diesem Montag wird er als Nebenkläger im Gerichtssaal sitzen, wenn der Prozess gegen John Demjanjuk beginnt. Denn falls es stimmt, was die Staatsanwaltschaft ihm vorwirft, dann müsste auch er an dem Junitag in Sobibor gewesen sein, als Jules, Rachel und die anderen verängstigten Menschen aus den Waggons herausgeprügelt wurden. Demjanjuk soll als Wachmann in dem Vernichtungslager beim nationalsozialistischen Judenmord mitgeholfen haben. Allerdings bestreitet er die Vorwürfe.

Die beiden Männer, die sich im Saal des Münchner Landgerichts gegenübersitzen werden, sind fast gleichaltrig, Schelvis ist 88, Demjanjuk 89. Für beide wird dieses Verfahren, das einer der letzten NS-Prozesse in Deutschland sein könnte, eine Reise in die Vergangenheit.

Im Mai 1940 – Schelvis ist 19 Jahre alt – reißt ihn eines Morgens in seiner Heimatstadt Amsterdam das Brummen von Flugzeugen aus dem Schlaf. Nazi- Deutschland hat sein Land überfallen. Was wird das für die niederländischen Juden bedeuten? Antisemitismus hat Jules in seiner Jugend nie erlebt. Er macht eine Druckerlehre, ist im Arbeitersportbund aktiv, die Sommer verbringt er im Jugendlager. Er verliebt sich in Rachel. Wie würde es nun weitergehen?

Ab 1941 müssen sich alle Juden bei den Behörden melden, später dürfen sie die meisten Geschäfte nicht mehr betreten, Jules verliert seine Arbeit. Die ersten Juden werden deportiert. Schnell heiratet er Rachel, um sie, die polnische Jüdin, vor der Deportation zu schützen. Am 26. Mai 1943 ist es so weit: Alle Juden in ihrem Viertel werden aus den Wohnungen geholt und ins Durchgangslager Westerbork gebracht. Das normale Leben endet. Für immer.

Und Demjanjuk? Er wird 1920 in der Sowjetunion geboren, in dem kleinen ukrainischen Dorf Dubowije Machrinzik. Der kleine Iwan Nikolajewitsch lernt schon früh, was Hunger bedeutet. Und er erfährt vielleicht auch, wie wenig in einem totalitaristischen Staat ein Menschenleben wert ist. Als in der Ukraine eine furchtbare Hungerkatastrophe beginnt, ist Iwan zwölf Jahre alt. Mehrere Millionen Menschen sterben, weil Stalin eine erbarmungslose Politik der Zwangskollektivierung verfolgt und den Widerstand der Bauern brechen will.

Mit 20 Jahren wird Iwan, der inzwischen Traktorfahrer ist, von der Roten Armee eingezogen. Neun Monate später greift Hitlers Wehrmacht die Sowjetunion an. Der junge Rotarmist Iwan Demjanjuk muss in den Krieg ziehen. Als er im Mai 1942 auf der Krim kämpft, kommt er in deutsche Gefangenschaft. Die nationalsozialistische Vernichtungspolitik macht auch vor den sowjetischen Kriegsgefangenen nicht halt. Mehr als die Hälfte von ihnen überlebt die deutschen Lager nicht, viele sterben an Unterernährung.

Zum zweiten Mal in seinem Leben also begegnet Demjanjuk dem Hunger. Doch es gibt einen Weg, dem zu entkommen. Die SS braucht Helfershelfer für die „Aktion Reinhardt“, den systematischen Mord an den Juden im Generalgouvernement, dem von Hitlerdeutschland besetzten Teil Polens. Auch Demjanjuk soll von SS-Offizieren für die „Fremdvölkischen Wachmannschaften“ rekrutiert worden sein – so steht es zumindest in der Anklageschrift. Demjanjuk dagegen sagt, er sei Kriegsgefangener geblieben. Die Helfershelfer werden im SS-Ausbildungslager Trawniki auf ihre Tätigkeit vorbereitet. Demjanjuk sei dort zum Wachmann ausgebildet und am 27. März 1943 nach Sobibor abkommandiert worden, sagen die Ankläger. Das gehe aus einem SS-Dienstausweis hervor, von dessen Echtheit die Ermittler überzeugt sind.

Sobibor. „Das Lager haben wir schon aus der Ferne gesehen. Es sah nicht so schlimm aus“, erinnert sich Schelvis heute. Der schmale Mann mit dem melancholischen Blick sitzt auf dem Sofa seiner kleinen Wohnung in Amstelveen, einem Vorort von Amsterdam. In seinem Wohnzimmer hat er sich mit Bildern von Marc Chagall umgeben, in denen die vergessene Welt der osteuropäischen Juden wieder auflebt. Doch nicht Chagall hat die Bilder signiert, sondern Jules Schelvis. Er hat sie nachgemalt, mit größter Sorgfalt. Über das Entsetzliche redet er mit ruhiger, leiser Stimme. Die Augen blinzeln ein wenig öfter als sonst. Hin und wieder macht er eine Pause, bevor er weiterreden kann.

Nur zwei oder drei Stunden lang war Schelvis in Sobibor. Aber dieser Tag hat sein Leben für immer verändert.

Der Zug hält. Zehn Waggons werden abgekoppelt und rückwärts ins Lager gefahren. In Westerbork wurden Jules Schelvis und seine Frau in den letzten Waggon geschickt. Jetzt kommen sie als erste in Sobibor an. Die Türen gehen auf. Männer mit Peitschen prügeln auf die erschöpften Menschen ein. Schnell muss es gehen, ganz schnell. Jules und Rachel stehen auf der Rampe von Sobibor. Sie hören das Wimmern der anderen, die Peitschenschläge, das Geschrei. Sie werden weitergetrieben. In einer Baracke müssen sie ihr Gepäck auf einen Haufen werfen, der immer größer wird. Auch die Gitarre verschwindet darin. Schon müssen sie weiter, wieder nach draußen, immer weiter. Plötzlich entdeckt Jules, dass seine Rachel fort ist. Ein SS-Mann hat die Frauen in eine andere Richtung geschickt. „Es ging so schnell, dass ich nicht gemerkt habe, dass meine Frau nicht mehr neben mir ging“, sagt Jules Schelvis heute. Seine Stimme stockt, der Blick geht in die Ferne.

Kein Wort des Abschieds, kein Händedruck, kein letzter Kuss. Als er sich noch einmal nach ihr umschauen will, wird er zum Weitergehen gedrängt. Er sieht sie nie wieder.

Ein SS-Offizier fängt an, 80 junge Männer auszuwählen. Niemand weiß, was das bedeutet. Jules sieht seinen Schwager in der kleinen Gruppe. Er geht auf den SS-Mann zu. „Herr Offizier, darf ich Sie etwas fragen?“ In seinem besten Deutsch bittet er darum, zu der Gruppe gehen zu dürfen. Der Offizier erlaubt es. Zu dem Zeitpunkt weiß Jules noch nicht, dass ihm das sein Leben gerettet hat. Statt 80 sind es an diesem Tag 81 junge Männer, die das Lager wieder verlassen. Bevor sie gehen, hört Jules den SS-Offizier zu den anderen Männern sagen, sie seien sicher schmutzig von der langen Reise. Sie sollten nun ins Bad gehen. Schelvis sieht noch, wie sie ihre Schuhe ausziehen und anfangen, sich zu entkleiden. Keiner ahnt etwas. Wie denn auch? Wie sollten sie sich das, was kam, vorstellen? Am Ende ihres Weges stand die Gaskammer.

Auch Rachel Schelvis wird an jenem Tag in der Gaskammer ermordet. Unter anderem für ihren Tod muss sich John Demjanjuk vor Gericht verantworten.

Beihilfe zum Mord in 27 900 Fällen, lautet der Vorwurf. 27 900 Menschen wurden in Sobibor zwischen März und September 1943 ermordet, in der Zeit, in der Demjanjuk nach Überzeugung der Ankläger dort war.

Schelvis kann sich an Demjanjuk nicht erinnern. Er sah nur Uniformen, das Grau der SS und das Schwarz der Ukrainer. Diese Unterschiede lernte er erst in anderen Lagern. „Die ukrainischen Wachleute waren schlimmer als die SS-Männer“, sagt Schelvis. Die „Trawniki“, wie sie nach dem Ausbildungslager genannt wurden, zeichneten sich durch große Brutalität aus. In Sobibor trieben sie die nackten Menschen in die Gaskammern.

Demjanjuk hätte fliehen können und hat es nicht getan, sagen seine Ankläger. Er habe sich „bereitwillig“ an den Morden beteiligt.

Jules Schelvis überlebt noch mehrere Konzentrationslager, kommt nach Auschwitz und entgeht dem Tod in der Gaskammer zum zweiten Mal.

Kurz nach der Befreiung schreibt er seine Geschichte auf, hastig, auf den Rückseiten von leeren Formularen aus dem Krankenhaus, in dem er liegt. Er will die Erinnerung bewahren und damit abschließen. „Ich wollte nicht mehr zurückblicken.“ Das Manuskript bleibt liegen, bis eine Freundin – später wird sie seine Frau – den Text abtippt. Über das Erlebte spricht er jahrzehntelang nicht, selbst seinen Kindern erzählt er nichts von den Lagern, von Rachel, von Sobibor. Sie erfahren es von ihrer Mutter.

Erst im Rentenalter und am anderen Ende der Welt stellt er sich der Vergangenheit: Bei einem Besuch in Australien trifft er Leidensgefährten aus den Lagern und lernt einen Überlebenden von Sobibor kennen. Der bittet ihn, 1983 mit zu einem Sobibor-Prozess in Hagen zu kommen. Schelvis fährt hin, schreibt alles mit und hält als Nebenkläger sogar selbst ein Plädoyer. Vor seiner Kamera lässt er nach der Verhandlung andere Überlebende ihre Geschichte erzählen. Jetzt will er in Erfahrung bringen, was mit Rachel passiert ist. „Ich wollte alles wissen.“ Jahrelang recherchiert er in Archiven. Heute kann er die Mordmaschinerie in allen Einzelheiten beschreiben und über die „Kapazitäten“ der Gaskammern sprechen. Wie hält man das aus, wenn man weiß, dass die eigene Frau dort gestorben ist? „All diese Gedanken habe ich ausgeschaltet. Das ist zu belastend.“

Selbst Experten wussten damals kaum etwas über das Vernichtungslager, in dem 250 000 Juden ermordet wurden. Am Ende schreibt Schelvis ein Buch über Sobibor und gründet eine Stiftung, die die Erinnerung wach halten soll. „Das ist meine Aufgabe im letzten Teil meines Lebens“, sagt er.

Im Prozess wird Schelvis als Zeuge aussagen. Für Demjanjuk empfindet er keinen Hass, auch Rache ist ihm fremd. Aber er fordert Gerechtigkeit: „Wenn er ein Mittäter war, muss er auch nach so vielen Jahren verurteilt werden.“ Von ihm aus muss der alte und kranke Demjanjuk aber nicht mehr ins Gefängnis gehen. Das sei ein Gebot der Menschlichkeit. Im Münchner Prozess geht es für Schelvis um etwas ganz anderes – die Wahrheit. „Mir ist viel wichtiger, dass jetzt die ganze Welt weiß, was Sobibor bedeutete.“

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