"Ermordet in Ägypten": Den Opfern gewidmet: Das digitale ägyptische Totenbuch
„Ermordet in Ägypten“ – hat die amerikanische Menschenrechtsaktivistin Joanne Michele ihr digitales Totenbuch genannt. Es versucht, alle Opfer aufzulisten und möglichst viele Informationen über sie zusammenzutragen.
Der junge Mann presst den Mund zusammen, Tränen schießen ihm in die Augen. Mit einem stummen Nicken geht er weiter. Er kann und will nicht sprechen. Stumm trägt er das Plakat durch die Menge mit dem Foto seines Freundes. Ein junges, strahlendes Gesicht – erschossen von einem Scharfschützen, der auf dem Dach des Innenministeriums saß.
Fast alle auf dem Tahrir-Platz sind gezeichnet von den Horrorszenen der letzten Tage. Viele tragen Verbände an Kopf, Armen und Beinen. Andere erzählen immer und immer wieder, was sie mit angesehen haben – als könnten sie ihren eigenen Augen nicht trauen. So wie ein 34-jähriger Mann, der als Namen „ein ägyptischer Bürger“ angibt. Polizisten hätten vor seinen Augen zwei Jugendliche regelrecht hingerichtet. Im Internet sind Videos zu sehen, wie gepanzerte Kleinbusse der Polizei mit Vollgas durch die Menge rasen und reihenweise Passanten niedermähen.
Mindestens 300 Menschen sollen nach Angaben der Vereinten Nationen seit Beginn der Unruhen ums Leben gekommen sein. Selbst der ägyptische Gesundheitsminister, der bisher alle Statistiken nach Kräften herunterspielte, spricht inzwischen von mehr als 5000 Verletzten.
Tausende werden in den Gefängnissen festgehalten und gequält. Die ganze Nacht hätten sie Schreie der Gefolterten gehört, berichteten zwei Reporter der „New York Times“, nachdem sie nach 24 Stunden wieder aus den Fängen der Staatssicherheit entlassen worden waren. „Du sprichst mit Journalisten, du sprichst schlecht über dein Land“, brüllte der Offizier einen der Gequälten an, bevor er weiter auf ihn einprügelte.
Zum Beispiel Ahmed Ahab Mohamed Fouad Abbas, 29 Jahre. Er wurde am vierten „Tag des Zorn“ auf dem Tahrir-Platz von sechs Gummigeschossen getroffen, drei trafen ihn ins Gesicht, eines davon ins Auge. Fünf Tage lag er im Koma, dann starb er in der Klinik der Al-Hossein-Universität. Den Angehörigen wollten die Ärzte die Leiche nur herausgeben, wenn seinen Tod offiziell als Autounfall deklarieren. Doch die Familie lehnte ab, weigerte sich, die Lüge zu unterschreiben. Das Foto zeigt einen jungen Mann in rotem T-Shirt und Jeans, lächelnd und mit Händen in den Taschen – aufgenommen bei einem Abendbummel in Kairo.
Alles, was sich bisher im Internet über die Opfer des Volksaufstandes am Nil findet, also auch die Geschichte von Ahmed Ahab Mohamed Fouad Abbas, hat Joanne Michele in ihrem digitalen ägyptischen Totenbuch zusammengetragen. Schnörkellos und nüchtern in einem Google-Dokument sind bisher 58 Schicksale aus Kairo, Alexandria, Mansoura oder Suez aufgelistet. Die Kolonnen tragen die Bezeichnungen Name, Alter, Beruf, Todesort, Todesdatum, Anmerkungen und Foto – mehr nicht. Es gibt keine Kommentare, die meisten Fotos stammen von der Facebookseite „Märtyrer der Freiheit“, junge Leute, die sich am Strand vergnügen, mit Freunden ausgehen oder mit Schlips und Kragen für ein Bewerbungsfoto posieren.
Mahmoud Maher war gerade dabei, in der provisorischen Krankenstation auf dem Tahrir-Platz Wunden zu versorgen, als die Mubarak-Horden am Mittwochmittag mit ihren Pferden und Kamelen über die Demonstranten herfielen. Sie prügelten den jungen Arzt auf der Stelle tot. Die 23-jährige Künstlerin Sally Magdy Zahran erhielt einen schweren Knüppelschlag auf den Hinterkopf. Sie ging nach Hause, legte sich schlafen und wachte nie wieder auf.
Fehler sind bei Joanne Micheles schneller und auf freiwillige Helfer angewiesener Initiative natürlich nicht ausgeschlossen. "Bitte beachten", stand am Sonntag als Notiz oben rechts auf dem Google-Dokument. "Mr. Ahmad Mahmoud, der auf einigen Seiten aufgelistet wurde, lebt und bittet alle, dass sein Name nicht mehr weiter verbreitet wird."