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Der Soziologe Raj Kollmorgen erlebt in Ostdeutschland seit dem Aufkommen der AfD eine Kulturalisierung und Instrumentalisierung der sozialen Ungleichheit.

© HS Zittau/Görlitz

Soziologe über die Deutsche Einheit: „Die heile Welt der Demokratie gibt es auch im Westen nicht mehr“

Die meisten Ostdeutschen fühlen sich weiter benachteiligt. Der sächsische Soziologe Raj Kollmorgen sieht dahinter eine „fixe Attitüde“. Doch Proteststimmen für die AfD gibt es auch im Westen.

Stand:

Herr Kollmorgen, laut dem Einheitsmonitor von Civey im Auftrag des Tagesspiegels und der Potsdamer Neuesten Nachrichten glauben 76 Prozent der Ostdeutschen, dass sie gegenüber Westdeutschen benachteiligt werden. Aber 64 Prozent der Westdeutschen können eine solche Benachteiligung nicht erkennen. Woher kommt diese völlig unterschiedliche Wahrnehmung?
Ein neuer Befund ist das nicht. Ähnliche Ergebnisse gab es schon in den letzten 20 Jahren. Aus dem Umfrageergebnis unter Westdeutschen spricht auch eine gewisse Ermüdung, sich mit dem Thema weiter zu befassen.

Was zeigt das ostdeutsche Ergebnis?
Viele Ostdeutsche nahmen sich in der Vorbereitung und unmittelbar nach der Wiedervereinigung nicht als Benachteiligte wahr. Sie fühlten sich vielmehr befreit – selbstbefreit. Damals waren die Unterschiede zwischen Ost und West in der Lebensqualität zwar groß, aber die Menschen sahen sich als Gleiche, als ein „Volk“.

Doch von der herrschenden Politik wurde suggeriert, dass wir jetzt durch ein kurzes Tal der Tränen müssen, danach kommt ein rasanter Aufschwung und der gleiche Wohlstand wie im Westen. Als das – selbstverständlich – nicht so und schon gar nicht so schnell kam, als sich zeigte, dass es auch viele Wende-Verlierer gibt, und als die Ostdeutschen erlebten, wie Westdeutsche ihre Interessen durchsetzen – Stichwort Treuhand –, schlug diese Erwartung in Enttäuschung um.

Die Zeit der Massenarbeitslosigkeit der Neunziger- und der Nullerjahre ist vorbei. In ostdeutsche Infrastruktur ist viel Geld geflossen. Inzwischen sind genauso viele Ostdeutsche wie Westdeutsche mit ihrer persönlichen Lebenssituation zufrieden. Warum fühlen sie sich weiter benachteiligt?
Die Erwartung war, wir leben hier bald so gut wie in Hamburg-Blankenese oder am Starnberger See. Das war und ist vielfach der Maßstab und nicht die Eifel, das Ruhrgebiet oder andere Rand- beziehungsweise Problemregionen in Westdeutschland.

Dass es den Ostdeutschen materiell heute viel besser geht als zu DDR-Zeiten, wird oft nicht bedacht. Sie vergleichen sich auch wenig mit den Tschechen, Ungarn oder Slowenen, die ähnliche Startbedingungen aufwiesen.

Viele Ostdeutsche haben verstanden, dass ein massenhafter, lautstarker Protest gegen die Benachteiligung und die Drohung, die AfD zu wählen, die Politik mobilisiert.

Raj Kollmorgen, Soziologe

Zugleich erfahren die Menschen selbst heute noch, dass sie bei gleicher Arbeit 20 bis 30 Prozent weniger als im Westen verdienen. Das frustriert. Der Osten geriet 1990/91 zur verlängerten Werkbank des Westens. Die Produktion mit billigen Löhnen im Osten, während die Konzernzentralen und Forschungsabteilungen mit den höchsten Löhnen im Westen blieben. Viele haben das als Ausbeutung wahrgenommen. Darüber hinaus sind Ostdeutsche in den wirtschaftlichen, ja fast allen Eliten deutlich unterrepräsentiert.

Sind die Ostdeutschen also wirklich Bürger zweiter Klasse?
Einerseits ja, wenn man darunter versteht, dass sie bis heute in der sozialen Ungleichheitsordnung typischerweise unter den Westdeutschen rangieren. Andererseits nein, wenn damit gemeint ist, die Ostdeutschen besäßen weniger Bürgerrechte. Das ist Unsinn.

Wichtig ist dabei aber auch, dass wir seit den Pegida-Protesten in Dresden ab 2014 und dem Aufkommen der AfD eine bestimmte Kulturalisierung und Instrumentalisierung der sozialen Ungleichheit erleben. Viele Ostdeutsche haben verstanden, dass ein massenhafter, lautstarker Protest gegen die Benachteiligung und die Drohung, die AfD zu wählen, die Politik mobilisiert.

Ein Teil derer, die sagen, wir sind furchtbar benachteiligt, werden deshalb kleinlaut, wenn man sie fragt, wie es etwa in Gelsenkirchen aussieht.

Raj Kollmorgen, Soziologe

Schon in den 1990er-Jahren haben viele Ostdeutsche aus Protest PDS gewählt, damit die Politik mehr für sie tut.
Der Diskurs zur PDS war: Das sind die letzten Nutznießer des DDR-Systems, die sterben aus. Das hat sich eigentlich erst geändert, als die PDS nach der Fusion mit der WASG als Linke zu einer gesamtdeutschen Partei wurde.

Die Reaktion der politischen Klasse auf die Wahlerfolge der AfD lautet hingegen: Vorsicht, hier entgleitet uns wirklich etwas. Damit wird die Regierungsfähigkeit der großen Parteien insgesamt infrage gestellt. Seitdem versuchen Dietmar Woidke in Brandenburg und Michael Kretschmer in Sachsen, AfD-Wähler in neuen Dialogformaten wieder zu erreichen und zurückzugewinnen. Seitdem fließen auch deutlich mehr Gelder in Regionen mit hohem Stimmenanteil für die AfD.

Ist diese Reaktion auf die Erfolge der AfD falsch?
Wiederum: Einerseits nein, denn eben das ist der Sinn von Interessenartikulation und Wahlen. Andererseits steckt in diesem Belohnungsmechanismus auch ein Problem, weil Menschen das verinnerlichen. Das wird eine fixe Attitüde. Ein Teil derer, die sagen, wir sind furchtbar benachteiligt, werden deshalb kleinlaut, wenn man sie fragt, wie es etwa in Gelsenkirchen aussieht.

Jetzt trifft – wie sich exemplarisch an Russlands Krieg, Trumps Zöllen und dem eskalierenden Klimawandel zeigt – die neue globale Transformation ganz Deutschland.

Raj Kollmorgen, Soziologe

Übernehmen die Menschen in Gelsenkirchen und anderen vernachlässigten Regionen im Westen jetzt diese Strategie? Dort hat die AfD zuletzt auch große Wahlerfolge erzielt.
Der ostdeutsche Soziologe Wolfgang Engler hat die Ostdeutschen schon vor vielen Jahren als gesellschaftliche Avantgarde bezeichnet, weil sich hier soziale Entwicklungen wie die Säkularisierung, die Prekarisierung von Arbeit oder die Auflösung stabiler politischer Milieus früher zeigen.

Bis vor wenigen Jahren konnten sich die Westdeutschen einbilden, dass sie von transformativen Herausforderungen, wie sie der Osten erlebte, nicht betroffen sein werden. Es ging fast nur um die Anpassung des Ostens an den Westen.

Jetzt trifft – wie sich exemplarisch an Russlands Krieg, Trumps Zöllen und dem eskalierenden Klimawandel zeigt – die neue globale Transformation ganz Deutschland. Das fordert alle politischen Akteure und Bevölkerungsgruppen heraus. Zugleich wird drastisch erkennbar, dass es die heile Welt der Demokratie auch im Westen schon lange nicht mehr gibt.

Verändert sich dadurch das Verhältnis von Ost und West?
Tatsächlich kann der Westen hier vom Osten lernen. Man kann zum Beispiel Herrn Kretschmer oder Herrn Voigt fragen, welche Strategien im Kampf gegen das Erstarken der AfD funktionieren – und welche nicht.

Aber auch generell bieten die ostdeutschen Transformationserfahrungen der letzten drei Jahrzehnte Austausch-, Lern- und Anerkennungspotenzial. Dadurch könnten sich Verkantungen, die es im innerdeutschen Verhältnis nach wie vor gibt, lösen und produktiv nutzen lassen. Das wäre gut.

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