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Der republikanische Marsch in Paris am Sonntag mit Francois Hollande, Angela Merkel und anderen Staats- und Regierungschefs.

© AFP

Der Terror von Paris: Deutschland hat einfach nur Glück gehabt

Keine gesetzgeberische oder polizeiliche Maßnahme kann für die europäischen Gesellschaften die intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Islam ersetzen, auf den sich Terroristen berufen. Das weiß auch Angela Merkel. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Gerd Appenzeller

Momente des Glücks und der Befreiung können Familien und Völker so verbinden wie die Stunden der Trauer und des Entsetzens. Und manchmal liegt beides nahe beieinander, erwächst das Gefühl entschlossener Gemeinsamkeit gerade aus der Fassungslosigkeit über furchtbare Verbrechen oder grauenhafte Unglücke. In diesem Sinne war der „Republikanische Marsch“ der anderthalb Millionen Franzosen in Paris, waren die zahllosen Kundgebungen der Solidarität und Anteilnahme rund um den Erdball so etwas wie eine nationale, eine europäische, ja, auch eine globale Selbstvergewisserung. Sie waren ein Bekenntnis zum Fortgelten jener allgemeinen Menschenrechte, wie sie im Kern 1776 in der „Bill of Rights of Virginia“ niedergelegt sind, ab 1789 zu den Eckpunkten der Französischen Revolution gehörten und seitdem sinngemäß immer wieder beschworen wurden: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.

Die Rechte des Einzelnen müssen von der Gemeinschaft getragen, gewährt und verteidigt werden. Auch das ist das Versprechen der genauso würdevollen wie selbstbewussten Demonstrationen, ist auch der unausgesprochene Schwur der Staats- und Regierungschefs aus vielen Ländern, die am Sonntag in Paris den Angehörigen der Opfer der Terrortaten folgten. Was jetzt in Paris geschehen ist, kann, das wissen alle, ob sie nun Cameron, Merkel oder Rajoy heißen, morgen jedes andere Land dieses Kontinentes, aber auch die Vereinigten Staaten treffen. Dass von den Ländern, die die Genannten repräsentieren, einzig Deutschland bislang von einem so folgenschweren Verbrechen verschont blieb, liegt weniger an besonderen Umständen oder herausragender Tüchtigkeit der Polizei, nein, es ist vermutlich auch einfach glückliche Fügung.

Manche Erkenntnis kommt aus dem Herzen

Das befreit weder uns noch irgendein anderes Land von der Verpflichtung, sich der Frage zu stellen, wie die Wurzeln des islamistischen Terrors ausgerissen werden können, wie das Nachwachsen neuer potenzieller Gewalttäter zu verhindern ist. Die Erhaltung grundlegender Menschenrechte wie der Meinungs- und Pressefreiheit gewährleistet man kaum dadurch, dass man sie beschneidet. Wenn Großbritannien jetzt die Wissenschaftsfreiheit einschränken und Schulen und Universitäten verpflichten will, Vorträge und Diskussionen vorab daraufhin zu überprüfen, ob dabei für extremistische oder radikale Ideen geworben werden könnte, ist das genau der falsche Weg. Auf der anderen Seite ist die reflexhafte deutsche Ablehnung einer – natürlich grundgesetzfesten – Vorratsdatenspeicherung zumindest der Überprüfung wert. Dass sie im konkreten Fall in Frankreich nichts verhindert hat, beweist nicht deren generelle Untauglichkeit.

Nichts, keine gesetzgeberische oder polizeiliche Maßnahme, kann aber für die europäischen Gesellschaften die intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Islam ersetzen, auf den sich Terroristen hier und im Nahen Osten und in Afrika berufen. Der Zugang zur Kenntnis des bislang Unbekannten ist Bildung. Bildung ist Aufklärung. Dafür gibt es im angelsächsischen Sprachraum den Begriff „Enlightenment“, der wiederum aber eben auch „Erleuchtung“ bedeutet.

Diese Erleuchtung brauchen Christen wie Muslime, Juden wie Atheisten. Manche Erkenntnis kommt aus dem Herzen – wie etwa die des 24-jährigen Muslims Lassana Bathily, der als Angestellter des koscheren, jüdischen Supermarktes in Paris Kunden vor dem Terroristen Amedy Coulibaly in Sicherheit brachte. Diese Weisheit des Herzens muss aber von einer Bildung begleitet sein, die über den Verstand geht. Über das Begreifen, dass keine Religion und kein Gott Morde an Andersdenkenden und Andersglaubenden rechtfertigen können und dürfen, und dass keine Religion in einer so vielfältigen, multi-ethnischen Gesellschaft wie der unseren einen Absolutheitsanspruch erheben darf.

Das gilt für die Mehrheit in einem Land, auf einem Kontinent, genauso wie für die Minderheiten. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – das meint eben, alles umfassend, vor allem: Toleranz.

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