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Sozialdemokratisches Erfolgsrezept? Wahlplakat für Olaf Scholz als Kanzler im August 2021.

© imago images/Revierfoto

Sozialdemokratie im Aufwind: Die Erreichbaren und die Verlorenen

Warum die linke Mitte einen Fehler macht, wenn sie am rechten Rand nach Wählern sucht. Ein Gastbeitrag.

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Jan-Werner Müller, Professor für Politik an der Princeton University, ist Stipendiat am Neuen Institut in Hamburg und Autor des kürzlich erschienenen Buches „Democracy Rules“. Übersetzung: Andreas Hubig, Copyright: Project Syndicate, 2022. www.project-syndicate.org

Einige wenige Siege von Mitte-Links-Parteien in großen Ländern lassen kaum auf einen Trend schließen. Dennoch deuten die Siege der US-Demokraten im Jahr 2020 und der deutschen SPD im Jahr 2021, ganz zu schweigen vom starken Abschneiden der Sozialisten bei den jüngsten Wahlen in Portugal, darauf hin, dass die Krise der Sozialdemokratie nicht so schwerwiegend ist.

Nach Ansicht einiger Mitte-Links-Strategen erfordert die Erneuerung eine Abkehr von allem, was nach Identitätspolitik riecht. Die Tatsache, dass Bundeskanzler Scholz mit seinem Wahlkampfthema „Respekt“ Erfolg hatte, soll dies beweisen. Die Folgerung scheint zu sein, dass die „Arbeiterklasse“ mehr Anerkennung verdient als die immer selbstbewusster auftretenden Minderheiten.

Aus dieser Prämisse ergibt sich ein weiteres Argument: Die linke Mitte muss Stimmen von der extremen Rechten zurückgewinnen, durch eine Neuausrichtung auf grundlegende Alltagsprobleme und durch Zugeständnisse an nationalistische und migrationsfeindliche Stimmungen.

Verrat von Kernwerten

Aber diese Prämisse ist empirisch und moralisch falsch. Parteien, die eine solche Strategie verfolgen, werden nicht nur daran scheitern, Mehrheiten zu sichern. Sie werden auch die Kernwerte verraten, für die die linke Mitte steht und die von jüngeren Wählern besonders ernst genommen werden.

Der Triumph von Scholz im vergangenen Jahr schien dem ehemaligen SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel Recht zu geben, der 2016 warnte: „Wer die Arbeiter im Rust Belt verliert, dem werden die Hipster in Kalifornien nicht helfen.“ Scholz nahm auch den Rat des Harvard-Politikphilosophen Michael Sandel an, der die linke Mitte dazu auffordert, ihre Fixierung auf die Leistungsgesellschaft aufzugeben.

Damit ist gemeint, dass die politischen Führer aufhören sollten, den „Verlierern der Globalisierung“ zu sagen, dass ihr Scheitern ihre eigene Schuld ist (oder herablassend zu sagen, dass die vertriebenen Arbeiter nur weiterziehen und „programmieren lernen“ müssen). Die Hochqualifizierten sollten anerkennen, dass ihr Erfolg oft das Ergebnis bestehender Privilegien und schieren Glücks ist.

Dieser Ansatz deckt sich gut mit den Erkenntnissen des französische Wirtschaftswissenschaftlers Thomas Piketty. Er argumentiert, dass der politische Wettbewerb in den westlichen Parteiensystemen heute hauptsächlich zwischen zwei verschiedenen Eliten ausgetragen wird: der „Brahmanen-Linken“ (hochgebildete „Wissensarbeiter“) und der „Kaufmanns-Rechten“ (Wirtschaftsführer und wohlhabende Spender, die konservative Parteien und Anliegen unterstützen). Die Arbeiterklasse ist in dieser Darstellung nicht zu finden.

Postneoliberal und postmeritokratisch

Viele Beobachter behaupten überzeugt, dass Arbeiter, die sich ignoriert fühlen, unweigerlich zu einer rechtsextremen Wählerschaft werden. Die Lektion für die linke Mitte ist also, dass sie sowohl postneoliberal als auch postmeritokratisch werden sollte, indem sie gelegentlich taktische Zugeständnisse an Arbeiter mit autoritären und migrationsfeindlichen Einstellungen macht.

Doch wie die Sozialwissenschaftler Tarik Abou-Chadi, Reto Mitteregger und Cas Mudde zeigen, sind die Annahmen, die dieser Formel zugrunde liegen, falsch. Schließlich hat es schon immer autoritär orientierte Arbeiter gegeben, und sie haben selten, wenn überhaupt, für Mitte-Links-Parteien gestimmt – nicht einmal während der Blütezeit der Sozialdemokratie nach dem Zweiten Weltkrieg.

Der archetypische weiße, männliche Stahlarbeiter ist schon lange nicht mehr repräsentativ für diese breitere Bevölkerungsschicht. Die Mehrheit der Beschäftigten im Dienstleistungssektor ist weiblich – und ein erheblicher Teil farbig.

Noch auffälliger ist jedoch, dass die Mehrheit der Wähler aus der Arbeiterklasse in Westeuropa der Migration nicht ablehnend gegenübersteht. Obwohl die extreme Rechte in den letzten Jahren bei den Arbeitnehmern besser abgeschnitten hat, verfügt sie bei westeuropäischen Wahlen immer noch nur über einen Anteil von etwa 15 Prozent der Arbeitnehmerstimmen.

Der apokryphe weiße Mann

Abou-Chadi, Mitteregger und Mudde zufolge hat die extreme Rechte bei den Wählern mit niedrigem Bildungsniveau, die früher die konservativen Mainstream-Parteien unterstützten oder überhaupt nicht zur Wahl gingen, viel besser abgeschnitten.

Es stimmt, dass Mitte-Links-Parteien in den letzten Jahrzehnten in vielen Demokratien an Boden verloren haben. Aber die Hauptnutznießer sind die Mitte-Rechts- und die grünen Parteien, und es sind die Hochgebildeten. Angesichts der Tatsache, dass die Bevölkerung im Westen immer gebildeter und aufgeschlossener wird, ist es keine Strategie, an einen apokryphen weißen Mann zu appellieren, der sich an woken Neoliberalen stört.

Außerdem ist es ein Irrtum zu glauben, dass es bei Politik entweder um die Anerkennung der Würde der Menschen oder um materielle Umverteilung geht. Die Sozialisten der alten Schule setzten sich nicht nur für höhere Löhne ein, sondern kämpften auch für die Anerkennung der Würde der arbeitenden Menschen.

Kritiker der Identitätspolitik behaupten, diese führe zu einer neuen Form des Feudalismus, bei der das Gemeinwesen in „diskrete Untergruppen“ aufgeteilt wird. Black Lives Matter oder #MeToo geht es nicht wirklich darum, die Gesellschaft in Gruppen aufzuteilen, deren gelebte Erfahrung für die Mitglieder anderer Gruppen unklar ist.

Verteilung von Rechten

Schließlich liegt die Betonung auf der Verteilung: Rechte, die viele Bürger für selbstverständlich halten – wie etwa nicht von der Polizei erschossen oder von Mächtigen vergewaltigt zu werden – müssen für alle gewährleistet sein. Junge Menschen sind heute sensibler für diese Herausforderungen, und es sind die jüngeren Jahrgänge, nicht die älteren Arbeitnehmer, bei denen die Sozialdemokraten in den letzten Jahren schlecht abgeschnitten haben.

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Nach Angaben von Scholz’ Beratern konnte er sich durchsetzen, indem er darauf bestand, dass niemand als „bedauernswert“ (Hillary Clinton 2016 über Trumps Anhänger) angesehen werden sollte. Es stimmt, dass gleicher Respekt ein grundlegendes Element der Demokratie ist. Aber das bedeutet nicht, dass rechtsextreme Menschen Recht haben, wenn sie andeuten, dass hochgebildete Fachleute die meiste Zeit über die Chancenlosen spotten.

Auf alle zuzugehen, ist eine Sache; Politik als Kulturkrieg zwischen weniger gebildeten Menschen und vermeintlich verächtlichen Eliten darzustellen, ist eine völlig andere Sache. Die deutschen Sozialdemokraten haben keine Wähler von der extremen Rechten „zurückgewonnen“, weil sich ihre Wähler nie massenhaft in diese Richtung bewegt hatten. Wenn die Mitte-Links-Parteien Zugeständnisse an die extreme Rechte machen, verprellen sie nur die Bevölkerungsgruppen, die sie gewinnen müssen.

Jan-Werner Müller

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