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Ein ukrainischer Panzer in der Donbass-Region, während Lyssytschansk ukrainischen Angaben zufolge stark bombardiert wurde.

© Anatolii Stepanov / AFP

Tag 119 des russischen Angriffskrieges: Die Informationslage über Verluste hat sich grundlegend verändert

Der ukrainische Drohnenangriff in Russland war die Meldung des Tages. Im Donbass zeichnet sich der nächste erbitterte Häuserkampf ab. Der Überblick am Abend.

Im Vergleich zu den ersten Wochen des Krieges hat sich nicht nur die Front verlagert, sondern auch eine andere Sache hat sich grundlegend verändert: Die Informationslage über die Verluste der beiden Armeen.

Fluteten beim Angriff auf Kiew noch täglich hunderte Fotos und Videos von zerstörten russischen Panzern und anderem Gerät die sozialen Netzwerke, sind solche Aufnahmen kaum noch zu sehen. Beinahe in Echtzeit ließen sich Ende Februar und im März die dramatischen Verluste von Putins Truppen nachverfolgen (der Blogger Oryx basiert zum Beispiel seine Kriegsbilanz auf Social Media Posts).

Fotos und Videos von ukrainischen Truppen zeigten vor allem ihre Erfolge. Offizielle Äußerungen zu Verlusten im Kampf waren die absolute Ausnahme. Die Ukraine wollte stark erscheinen und das gelang.

Seit einigen Wochen, konkret mit der russischen Offensive im Donbass, hat sich das ins Gegenteil verkehrt. Über russische Verluste wird kaum noch etwas bekannt. Eine Ausnahme sind die Meldungen, die vor allem die ukrainischen Streitkräfte verbreiten und westliche Militärs.

Demnach könnte Russland laut dem britischen Verteidigungsministerium bisher rund 50.000 Soldaten verloren haben, wenn man Tote und Verwundete zusammenzählt; die US Armee schätzt, dass Moskau bis zu 30 Prozent ihrer "armored force" insgesamt verloren hat. Was damit konkret gemeint ist, ist allerdings unklar. Aus Russland selbst gibt es keine glaubwürdigen Berichte.

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Anders sieht es aus, wenn es um ukrainische Verluste geht. Über die äußern sich ukrainische Offizielle in den vergangenen Wochen überraschend offen. Bis zu 100 Tote und 500 Verletzte täglich beklagte Präsident Selenskyj, Sein Berater sprach kurz darauf von 200 Toten täglich. Ein ranghoher Militär der Ukraine sprach zuletzt davon, dass die Ukraine rund die Hälfte ihrer schweren Waffen im Kampf verloren hat, darunter rund 400 Panzer und 700 Artilleriesysteme.

Diese Zahlen sind, wie alle Angaben in diesem Krieg, mit einer gewissen Skepsis zu betrachten. Und das tut mancher Experte auch. Der Kriegsforscher Phillips O'Brien mutmaßte vor einigen Tagen, dass die Ukraine deshalb so offen mit ihren Verlusten umgeht, weil sie den Westen zu mehr Unterstützung bringen will. Er schätzt auch, dass die ukrainischen Zahlen zu hoch angegeben sein könnten. Aber auch, wenn sie nur annähernd stimmen, zeigen sie das dramatische Ausmaß dieses Krieges.

Die wichtigsten Nachrichten des Tages im Überblick:

  • Ein Feuer in einer russischen Ölraffinerie ist nach Angaben der russischen Behörden mutmaßlich auf einen ukrainischen Drohnenangriff zurückzuführen. Bemerkenswert: Der Ort liegt rund 150 jenseits der russischen Grenze. Mehr in unserem Newsblog.
  • Olaf Scholz erwartet vom Nato-Gipfel in Madrid angesichts des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine ein Signal des Zusammenhalts und der Entschlossenheit. „Eine Partnerschaft mit Russland, wie sie noch das Strategische Konzept von 2010 als Ziel ausgegeben hat, ist mit Putins aggressivem, imperialistischen Russland auf absehbare Zeit unvorstellbar“, sagte Scholz. Mehr hier.
  • Die russische Regierung hat der Bundesregierung das Schüren von Russenfeindlichkeit vorgeworfen. Berlin gefährde "jahrzehntelange Bemühungen Russlands und Deutschlands, die Feindschaft nach dem Krieg zu überwinden", erklärte das Außenministerium in Moskau am Mittwoch anlässlich des Gedenktags an den Angriff Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion. Deutsche Regierungsmitglieder würden mit fast "täglichen Attacken auf unser Land russenfeindliche Hysterie schüren".
  • Die russischen Truppen im Donbass haben südlich der umkämpften Städte Sjewjerodonezk und Lyssytschansk etwas Gebiet erobert. Strategisch ist das wichtig, da sie nun wohl nicht über den Fluss auf Lyssytschansk vorrücken wollen, sondern von Süden. Es droht erneut ein erbitterter Häuserkampf.
  • Deutschland und die Niederlande haben nach den Worten von Verteidigungsministerin Christine Lambrecht inzwischen alle 12 geplanten Modelle der Panzerhaubitze 2000 an die Ukraine übergeben.
  • Die russische Führung hat erneut die Transitbeschränkungen für die Moskau gehörende, aber zwischen den EU-Ländern Polen und Litauen liegende Ostsee-Exklave Kaliningrad kritisiert und mit „praktischen“ Vergeltungsmaßnahmen gedroht. Eine Antwort werde „nicht im diplomatischen, sondern im praktischen Bereich liegen“, wenn die EU ihre Restriktionen nicht aufhebe, drohte die russische Außenamtssprecherin Maria Sacharowa am Mittwoch in einem Pressebriefing.
  • Russland benennt den Platz vor der amerikanischen Botschaft in Moskau nach der separatistischen „Donezker Volksrepublik“ (DVR) um und provoziert so neue Spannungen mit den USA. Ein entsprechender Erlass zur Umbenennung wurde am Mittwoch von der Stadtverwaltung veröffentlicht. Der Schritt zwingt die US-Botschaft künftig bei Angabe ihrer Adresse auf die DVR zu verweisen, die Washington nicht als unabhängigen Staat anerkennt.

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