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Essay: Die neuen Schreibtischtäter
Autokraten brauchen wortmächtige Lakaien _ links wie rechts. Das Buch „Die Verlockung des Autoritären“ sucht nach ihren Motiven. Ein Auszug.
Stand:
Wir entnehmen den folgenden Essay von Anne Applebaum ihrem in diesen Tagen im Münchner Siedler Verlag erscheinenden Buch „Die Verlockung des Autoritären. Warum antidemokratische Herrschaft so populär geworden ist.“ (Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer. 208 Seiten, 22 €.)
Das Gremium wurde zwar später zum Inbegriff einer überflüssigen Einrichtung – und seit Kurzem auch zum Mechanismus, der kleinen Wählergruppen in einigen Bundesstaaten unverhältnismäßig großes Gewicht verleiht –, doch ursprünglich hatte es einen ganz anderen Zweck: Es sollte eine Art Aufsichtsrat sein, eine Gruppe elitärer Abgeordneter und Großgrundbesitzer, die den Präsidenten wählten und sich dabei nötigenfalls über den Volkswillen hinwegsetzten, um „den Auswüchsen der Demokratie“ vorzubeugen.
Hamilton war einer von vielen Amerikanern der britischen Kolonialzeit, die sich in die Geschichte Griechenlands und Roms vertieften, um zu verstehen, wie sich der Verfall einer neuen Demokratie in eine Tyrannei verhindern ließ.
John Adams beschäftigte sich auf seine alten Tage noch einmal mit dem römischen Staatsmann Cicero, der den Niedergang der Republik aufhalten wollte, und zitierte ihn in einem Brief an Thomas Jefferson. Diese Männer wollten ihre Demokratie auf dem Fundament von rationaler Debatte, Vernunft und Kompromiss errichten. Dabei gaben sie sich keinerlei Illusionen über die menschliche Natur hin: Sie wussten, dass der Mensch von seinen „Leidenschaften“ fortgerissen werden kann. Sie wussten auch, dass jedes auf Logik und Rationalität aufgebaute System durch Ausbrüche des Irrationalen bedroht ist. Ihre modernen Nachfolger haben versucht, diese Irrationalität und diese „Leidenschaften“ schärfer zu fassen.
Die Philosophin Hannah Arendt, die sich als Erste mit Totalitarismus auseinandersetzte, beschrieb die „totalitäre Persönlichkeit“ als radikal isolierte Menschen, „deren Bindung weder an die Familie noch an Freunde, Kameraden oder Bekannte einen gesicherten Platz in der Welt garantiert. Dass es überhaupt auf der Welt ist und in ihr einen Platz einnimmt, hängt für ein Mitglied der totalitären Bewegung ausschließlich von seiner Mitgliedschaft in der Partei und der Funktion ab, die sie ihm zugeschrieben hat.“
Theodor W. Adorno, der vor den Nationalsozialisten in die Vereinigten Staaten geflohen war, vertiefte diesen Gedanken weiter. Unter dem Einfluss von Sigmund Freud suchte er die Ursprünge der autoritären Persönlichkeit in der frühen Jugend, etwa gar in unterdrückten homosexuellen Neigungen. Unlängst behauptete die Verhaltensökonomin Karen Stenner, die sich seit zwei Jahrzehnten mit der Persönlichkeitsforschung beschäftigt, dass rund ein Drittel der Bevölkerung jedes beliebigen Landes eine autoritäre Veranlagung habe; diesen Begriff zieht sie dem der Persönlichkeit vor, weil er weniger starr ist.
Die autoritäre Veranlagung sehnt sich nach Homogenität und Ordnung und kann latent vorhanden sein, ohne sich äußern zu müssen, genau wie ihr Gegenteil, die freiheitliche Veranlagung, die Vielfalt und Unterschiede bevorzugt. Stenners Definition von „Autoritarismus“ ist nicht politisch und nicht deckungsgleich mit „konservativ“. Autoritarismus spricht vielmehr Menschen an, die keine Komplexität aushalten: Diese Veranlagung ist weder „links“ noch „rechts“, sondern grundsätzlich anti-pluralistisch.
Haltung, nicht Inhalt
Dabei ist es einerlei, ob ihre politischen Ansichten marxistisch oder nationalistisch sind. Es handelt sich um eine Geisteshaltung, nicht um einen gedanklichen Inhalt. Theorien wie diese übersehen allerdings oft ein weiteres entscheidendes Element beim Niedergang der Demokratie. Die bloße Existenz von Menschen mit einer Schwäche für Demagogen oder Diktaturen ist noch keine Erklärung für den Erfolg der Demagogen. Diktatoren wollen herrschen, doch wie erreichen sie den empfänglichen Teil der Öffentlichkeit?
Autoritäre Politiker wollen Gerichte unterwandern, aber wie überzeugen sie die Wähler davon, diese Veränderung zu akzeptieren? Im alten Rom ließ Caesar mannigfaltige Büsten von sich anfertigen. Autokraten von heute beauftragen die modernen Pendants der alten Bildhauer: Autoren, Intellektuelle, Pamphletschreiber, Blogger, Meinungsmacher, Fernsehproduzenten und Memeschöpfer, die der Öffentlichkeit ihr Bild verkaufen.
Autokraten brauchen Leute, die Unruhen anzetteln und die Machtübernahme vorbereiten. Aber daneben brauchen sie auch Leute, die den Jargon der Juristen beherrschen und Rechts- und Verfassungsbruch als Gebot der Stunde verkaufen können. Sie brauchen Leute, die Missstände in Worte fassen, Unzufriedenheit manipulieren, Wut und Angst schüren und Zukunftsvisionen entwerfen können. Sie benötigen mit anderen Worten Angehörige der Bildungselite, die ihnen helfen, einen Krieg gegen die übrigen Angehörigen der Bildungselite vom Zaun zu brechen, selbst wenn es sich dabei um ihre Kommilitonen, Kollegen und Freunde handelt.
Der französische Essayist Julien Benda beschrieb die autoritären Eliten schon 1927 in seinem Buch „La trahison des clercs“ (Der Verrat der Intellektuellen). Im Vorgriff auf Arendt galt sein Interesse nicht der „totalitären Persönlichkeit“ als solcher, sondern den geistigen Wegbereitern des Autoritarismus. Er beschrieb die Schreiberlinge der extremen Linken und Rechten, die „Klassenleidenschaften“ im Sinne des Sowjetmarxismus oder „nationale Leidenschaften“ im Sinne des Faschismus schürten, und warf beiden vor, ihre eigentliche Aufgabe als geistige Elite zu verraten, nämlich die Wahrheitssuche, und sich stattdessen für bestimmte politische Interessen herzugeben. Für sie verwendete er den ironischen Begriff clercs, der neben „Schreiber“ auch „Kleriker“ bedeutet.
Aufstachelung zu Gewaltausbrüchen
Zehn Jahre vor Stalins Großem Terror und sechs Jahre vor der Machtergreifung Hitlers fürchtete Benda bereits, dass zu Politunternehmern und Propagandisten gemauserte Autoren, Journalisten und Essayisten ganze Kulturen zu Gewaltausbrüchen aufstacheln würden. Und so sollte es dann auch kommen. Natürlich würde sich der Niedergang der freiheitlichen Demokratie heute anders gestalten als in den 1920er und 1930er Jahren.
Aber wieder wird eine geistige Elite gebraucht, um ihm den Weg zu bereiten. Um eine Vorstellung dessen, was manchmal als „freiheitliche westliche Ordnung“ bezeichnet wird, zum Einsturz zu bringen, sind Denker, Intellektuelle, Journalisten, Blogger, Schriftsteller und Künstler nötig, die erst unsere Werte aushöhlen und dann ein künftiges System entwerfen.
Sie können aus ganz unterschiedlichen Richtungen kommen: In seiner Definition der clercs dachte Benda an linke Ideologen genauso wie an rechte. Beide gibt es nach wie vor. Autoritäre Befindlichkeiten machen sich bemerkbar, wenn linke Agitatoren an den Universitäten den Professoren diktieren wollen, was sie zu lehren, und den Studierenden, was sie zu denken haben. Sie machen sich bemerkbar, wenn Scharfmacher auf Twittermobs es darauf anlegen, Figuren des öffentlichen Lebens oder gewöhnliche Bürger niederzumachen, weil sie gegen ungeschriebene Sprachregelungen verstoßen.
Sie machten sich bemerkbar, als Spindoktoren der britischen Labour Party jede Kritik an Jeremy Corbyns Führung unterdrückten, selbst als längst klar war, dass dessen ultralinke Agenda im Land auf Ablehnung stieß, und sie machte sich bemerkbar unter Labour-Aktivisten, die den Antisemitismus innerhalb der Partei erst leugneten und dann kleinredeten.
Abschied vom Konservatismus
Doch obwohl die kulturelle Macht der autoritären Linken zunimmt, befinden sich die einzigen modernen Intellektuellen, die in westlichen Demokratien an Kabinettstischen sitzen, an Regierungskoalitionen beteiligt sind und wichtige politische Parteien führen –, auf der Seite, die wir für gewöhnlich als „rechts“ bezeichnen. Es handelt sich allerdings um eine besondere Ausprägung der Rechten, die wenig gemein haben mit den politischen Bewegungen, die man in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg unter dieser Bezeichnung zusammenfasste.
Die alte Rechte – britische Tories, amerikanische Republikaner, osteuropäische Antikommunisten, deutsche Christdemokraten und französische Gaullisten – hat zwar jeweils eigene Wurzeln, doch als Gruppe bekannten sie sich zumindest bis vor Kurzem nicht nur zur repräsentativen Demokratie, sondern auch zur Glaubensfreiheit, zur Unabhängigkeit der Justiz, zur Presse- und Meinungsfreiheit, zur wirtschaftlichen Integration, zu internationalen Organisationen, zum transatlantischen Bündnis und zur politischen Idee des „Westens“.
Im Gegensatz dazu ist die neue Rechte nicht konservativ und will nichts vom Bestehenden bewahren. In Kontinentaleuropa verachtet sie die Christdemokraten, die zusammen mit ihrer kirchlichen Basis nach dem Albtraum des Zweiten Weltkriegs die Europäische Union aus der Taufe hoben.
In den Vereinigten Staaten und Großbritannien hat die neue Rechte mit dem altmodischen Konservatismus Burke’scher Prägung gebrochen, der raschen Veränderungen jeglicher Art misstraut. Sosehr die neuen Rechten die Bolschewiken hassen mögen, haben sie mehr mit ihnen gemein als mit den Konservativen: Sie wollen bestehende Einrichtungen stürzen, umgehen oder aushöhlen und alles Bestehende zerschlagen. Zu den hier beschriebenen Menschen gehören nationalistische Ideologen genauso wie hochgesinnte politische Essayisten.
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Einige werden von derselben Sorge, Wut und Harmoniesucht angetrieben, die auch ihre Leser und Follower beschäftigen. Ein Teil wurde durch Auseinandersetzungen mit der kulturellen Linken radikalisiert oder von der Schwäche der liberalen Mitte abgestoßen. Andere sind Zyniker und bedienen sich einer radikalen und autoritären Rhetorik, weil sie sich davon Macht und Anerkennung erhoffen.
Es gibt Apokalyptiker, die überzeugt sind, dass ihre Gesellschaft dem Untergang geweiht ist und gerettet werden muss. Einige sind zutiefst religiös. Manche genießen das Chaos und wollen es herbeiführen, um der Gesellschaft eine neue Ordnung aufzuzwingen. Sie alle versuchen ihre Nationen umzudefinieren, Sozialverträge umzuschreiben und manchmal auch die demokratischen Regeln zu ändern. Alexander Hamilton warnte vor ihnen, Cicero bekämpfte sie. Einige dieser Menschen waren einmal meine Freunde.
Anne Applebaum
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