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Zwischen SPD (hier Spitzenkandidat Thorsten Schäfer-Gümbel) und CDU (rechts Ministerpräsident Volker Bouffier) stehen die Grünen in Person von Tarek Al-Wazir.

© dpa

Hessenwahl und große Koalition: Die pragmatische Mitte will den Wechsel im Bund

Hessen hat gewählt. Ein Ende der großen Koalition ist nicht mehr auszuschließen. Die Union wird zwar stillhalten. Doch die SPD ist verzweifelt. Ein Kommentar.

Nun hat es gekracht in Hessen, dem politischen Labor der Republik. Toxische Dämpfe steigen auf, die Schwaden ziehen über die ganze Republik und werden bald Berlin erreichen. Sie werden für Unruhe sorgen, möglicherweise für Panik. Der Wähler hat eine Schicksalsentscheidung getroffen, die zum erneuten Absturz der beiden Volksparteien CDU und SPD geführt hat – und zu einem fulminanten Sieg der Grünen. Animiert wurde er dazu allerdings von den Politikern der großen Koalition in der Hauptstadt, sie hatten das gefährliche Gemisch entstehen lassen, das der Wähler nun entzündet hat.

Es ist ein Paradox: Ein Ministerpräsident, der eine noch vor kurzem am Main undenkbare schwarz-grüne Koalition gezimmert und diese mit Bravour geleitet hat, wird in beispielloser Weise abgestraft. Einem fleißigen Oppositionschef ergeht es ebenso. In einer Zeit, in der sich die Hessen laut Umfragen zu den glücklichsten Deutschen zählen, entscheiden sie sich für einen Parteien-Cocktail, der die Gefahr höchstmöglicher politischer Instabilität in sich birgt.

Konnte das Ergebnis in Bayern noch mit den haarsträubenden Charakter-Unzulänglichkeiten der christsozialen Parteispitzen erklärt werden, gilt genau dies für Hessen nicht. Und doch verloren beide großen Parteien genau soviel Prozentpunkte wie in München. Es muss schon verdammt viel Unzufriedenheit in der Luft liegen, um einen derart historischen Absturz hervorzubringen.

Bouffier hat es wohl wieder geschafft

Wie geht es jetzt weiter? In Hessen hat es Volker Bouffier trotz der gewaltigen Verluste wohl wieder geschafft, er wird mit Tarek Al-Wazir – sein Nachname heißt „der Minister“ – weiter regieren können, wenn der es will. Davon ist auszugehen. Dessen Partei profiliert sich gerade als die modernere und liberalere Bürgerpartei, auch am einstigen Pflasterstrand in Hessen, wo die CDU die meisten Stimmen an die Grünen verloren hat. Eine Chance, die der Chefliberale Christian Lindner mit seinem fatalen und noch heute nachwirkenden Rücktritt von der Regierungsbildung im Bund vorerst verspielt hat.

Und in Berlin? Zerreißt es die SPD? Zerbricht die große Koalition? Eigentlich hätten jetzt alle Beteiligten erstmal Zeit, viel Zeit bis zur nächsten Wahl. Die kann man nutzen, „zur Sacharbeit“, wie es so schön heißt – oder zum Streit, den die Wähler hassen. Dabei gibt es reine Sacharbeit nie. Politik bedeutet immer auch Vermittlung, vor allem aber Wegweisung. Die hängt nun einmal an den Köpfen. Und die sind nach Ansicht vieler Wähler die falschen.

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Bei den Genossen scheint alles möglich, die Lage ist verzweifelt. Derzeit wird in der Partei soviel Gift in alle Richtungen verspritzt, dass ein Sturz von Parteichefin Andrea Nahles keinesfalls auszuschließen ist – und ebenso nicht ein Ende der großen Koalition. Für die SPD gibt es derzeit keinerlei Lichtschimmer, nirgendwo. Das stolze Schiff Sozialdemokratie ist am Sinken, es ist schon gar kein Schiff mehr, sondern eher ein löchriges U-Boot. In solchen Situationen regiert die Angst – und die kann zu unberechenbaren Schritten führen.

Nicht nur die alternden weißen Männer sind unzufrieden

Bei der Union sieht es etwas anders aus. Weil Volker Bouffier aller Voraussicht nach Ministerpräsident bleiben wird, ist ein Szenario erstmal abgewandt, das Merkel unmittelbar gefährden könnte. Auf Bundesebene reißt die Union allerdings eine historische Tiefstmarke nach der anderen. Derzeit ist sie bis auf 24 Prozent abgestürzt. 

Die Unzufriedenheit in Deutschland wird beileibe nicht allein geprägt durch lautstarke, alternde, ängstliche, weiße Männer. Die pragmatische Mitte, die sich in Bayern schon in bemerkenswerter Weise von SPD und CSU zu den Grünen hin abgesetzt hat, votiert in immer vernehmbarer Weise für einen Wechsel in Berlin, einen neuen Aufbruch, mehr Energie für die Zukunftsthemen des Landes: Die im europäischen Maßstab erschütternd schleppende Digitalisierung. Die halbherzigen Konzepte, die Deutschland bei der Luftreinhaltung hinter vielen Ländern zurückfallen lässt. Die sträfliche Vernachlässigung der Schulen, der Zukunftsschmieden der Nation.

Grün wird als frisch empfunden

Die Tragik der Volksparteien ist, dass ihnen ausgerechnet die Zukunft davonläuft. Diese Republik hat sich gewandelt. In den vergangenen Jahren haben sich die Entscheidungsträger in Unternehmen, in der Wissenschaft und auch in Behörden stetig verjüngt. Eine neue Generation sitzt an den Schalthebeln des Landes – hungrig, voller Energie. Sie kämpft Tag für Tag an ihren Arbeitsplätzen für Fortschritt und Erneuerung, um die Chancen zu nutzen und die Herausforderungen der neuen Zeit zu meistern. Diese Klientel wendet sich zusehends von den Altparteien ab, und oft den Grünen zu. Deren Protagonisten werden allerorten so charakterisiert: „Frisch, jung, authentisch“. Eine erschöpfte Kanzlerin, eine zögerliche SPD-Chefin verkörpern das Gegenteil davon.

Dennoch wird der Aufstand in der Union wohl ausbleiben. Auf dem kommenden Parteitag im Dezember wird Merkel als Parteichefin wieder bestätigt werden. Alle rechnen damit, dass die Kanzlerin ihre Nachfolge in der Mitte der Legislaturperiode vorbereiten wird. Einen ehrenhaften Wechsel befürworten in der biederen Union immer noch weitaus mehr, als einen Sturz. Selbst wenn Merkel sich selbst einstmals mit der Brechstange an die Parteispitze brachte.

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