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Der Staat gibt Milliarden aus, doch der Anteil der Familien, die jeden Cent zweimal umdrehen müssen, bleibt hoch.

© dpa

Drei Millionen Kinder in Deutschland leben in Armut: Wer trägt die Verantwortung für die skandalöse Zahl?

Mehr als ein Fünftel der Jüngsten wächst in Mangel auf. Es geht nicht allein um Geld, es geht um Chancen, die nicht gegeben werden. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Caroline Fetscher

Armut ist kein Schicksal, kein Gendefekt, keine höhere Gewalt. Armut wird von Menschen gemacht. Armut in wohlhabenden Staaten existiert nur, weil sie toleriert und ignoriert oder sogar politisch gewollt wird, etwa weil Arme für niedrigere Löhne arbeiten. So kommt es zum paradoxen Phänomen einer Wohlstandsgesellschaft.  

Knapp drei Millionen Kinder in Deutschland, einem der reichsten Staaten der Erde, leben in Armut, das ermittelte eine Studie der Bertelsmann-Stiftung. Mehr als ein Fünftel der Jüngsten wachsen im Mangel auf, den die Pandemie noch verschärft hat, da wo Eltern in Teilzeit oder als Minijobber arbeiten. Überdeutlich bringt die Krise zum Vorschein, wo Klassengräben verlaufen.

Viele Lehrkräfte gaben an, dass sie während der Schulschließung rund 20 Prozent der Kinder gar nicht erreichen konnten, was exakt der errechneten Armutsquote entspricht. Bei Homeschooling und Homeoffice sind Familien im Vorteil, die Haus und Garten haben, Kinderzimmer mit Schreibtischen, gute Computer und Drucker. Und Bildung.

Die Studie fordert den klareren Blick auf die Kinderarmut. Genau genommen gibt es jedoch keine „armen Kinder“. Es gibt arme Erwachsene, von deren Status Kinder abhängig sind. Arme Erwachsene gibt es, solange Gesellschaften die Grundparameter von Armut hinnehmen.

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In der Corona-Krise die Spielplätze versperrte rotweißes Flatterband die Spielplätze. Doch jenseits jeder Krise trennt ein unsichtbares Sperrband Familien mit und solche ohne finanzielle, soziale und kulturelle Ressourcen. Daran kann die geforderte Grundsicherung zwar etwas ändern – aber tatsächlich nur etwas.  

Armut ist nicht allein materiell. In armen Milieus wird oft schlicht anders gewichtet. Geld wandert etwa in Videospiele, Tattoos, Nagelstudios oder Smartphones, in tröstende, ablenkende Unterhaltung. Aha - sind also die Armen selber schuld? Keineswegs. Neoliberale Verachtung der Leute, die nicht ihres Glückes Schmied sind, führt doppelt und dreifach in die Irre. Statistisch sind Intelligenz und Potenzial über alle Milieus gleich verteilt. Doch Chancen kann nur ergreifen, wer sie kennen gelernt hat und erkennt.

Der Staat muss für gute Bildungsstätten sorgen

Eine zusätzliche Summe auf dem Konto ist willkommen, klar, sie kurbelt die Konjunktur an, ja, und das ist auch gut für den Fiskus. Der Staat ist gleichwohl vor allem gefragt als Bauherr einer Architektur der Chancen. Deren Baugelände sind und bleiben die Bildungsstätten, die Kindergärten und Schulen.

Nur dort kann das soziale und kulturelle Kapital erworben werden, das die Selbstrekrutierung armer Milieus bricht, wie in Berlin Marzahn-Nord oder in Wedding, in den Mannheimer Benz-Baracken oder den Plattenbauten von Bitterfeld-Wolfen.

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Jedes Jahr vergibt die Bosch-Stiftung den Deutschen Schulpreis für vorbildliche Modelle. Großartige Beispiele für beste Praxis bleiben als Solitäre stehen, ohne dass diese Schulen bundesweit Schule machen. Dabei wissen Politik wie Pädagogik, gute Schule bedeutet: bundesweit kostenfreies Schulessen, Quoten für den Anteil an Migranten, Nachhilfe und soziale, kulturelle und digitale Förderung ohne Zusatzleistung der Elternhäuser. 

Und alle wissen, dass die investierten Milliarden pure Prävention sind, dass sie die Folgekosten von Armut im Gesundheits- und Sozialsystem enorm drosseln. Denn Armut, auch das ist bekannt, wirkt billig. Aber Armut ist teuer. Sie ist immer teurer als ihre Abschaffung.        

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