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Der Platz der USA bei der Welthandelsorganisation in Genf.
© REUTERS

Welthandel in der Klemme: Droht die Gesetzlosigkeit?

Die USA blockieren einen Richterwahl bei der Welthandelsorganisation. Wie es dazu kam, warum das gefährlich ist - und was die EU jetzt tun kann. Ein Gastbeitrag

Laura von Daniels leitet die Forschungsgruppe Amerika der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Susanne Dröge ist Senior Fellow der Abteilung für Globale Fragen, ebenfalls bei der SWP. Alexandra Bögner studiert im Masterprogramm Internationale Beziehungen an der Freien Universität Berlin.

Im Schatten der innenpolitischen Auseinandersetzungen in Deutschland und der Wahl in Großbritannien hat in dieser Woche eine andere, weit weniger beachtete Krise einen neuen Höhepunkt erreicht: In der Nacht zum Mittwoch liefen die Amtszeiten von zwei der letzten drei verbliebenen Richter im Appellate Body der WTO aus, dem Schiedsgericht der Welthandelsorganisation. Was wie ein eher technisches Problem klingt, ist tatsächlich eine Gefahr für den Welthandel. Der faktische Shutdown könnte Eskalationsspiralen auslösen und es könnte zu mehr kleineren Handelskriegen kommen. Das ohnehin angeschlagene Regelsystem des Welthandels droht weiter zu zerfallen. Wie konnte es zu dieser Krise kommen? Und was kann die Europäische Union tun, um Auswege aus dieser Krise zu finden?

Drohen Handelskriege und Racheakte?

Die Welthandelsorganisation ruht auf zwei Säulen. In der ersten Säule verhandeln die Mitglieder über die bestehenden Regeln des Welthandels, sie können sie verändern oder neue Regeln hinzufügen. Die zweite Säule besteht in einem Streitschlichtungssystem. Mitgliedstaaten können sich an die Streitschlichtungsgremien wenden, wenn sie meinen, ein anderes Land würde gegen die Regeln der WTO verstoßen. Der Appellate Body, die Berufungsinstanz des Schiedsgerichts, ist eines der Gremien, die über solche Streitigkeiten entscheiden - ein wichtiges. Funktioniert dieser Mechanismus nicht mehr, könnten Staaten versuchen, ihre Handelsstreitigkeiten einseitig zu regeln - über Racheakte oder Handelskriege.

Im Regelfall hat die Berufungskammer sieben Mitglieder. Der Berufung eines Streitschlichters müssen alle Mitgliedstaaten zustimmen. Im Juni 2017 begannen amerikanische Vertreter bei der WHO, die Nachbesetzung mehrerer offener Stellen zu blockieren. Die Amtszeiten dreier Richter waren ausgelaufen, einer war zurückgetreten. In dieser Woche nun liefen die Amtszeiten zweier weiterer Richter aus. Erneut verhinderten die USA die Nachbesetzung. Damit ist das Streitschlichtungsgremium arbeitsunfähig.

Viele Probleme, wenig Reformfähigkeit

Die Konflikte, die nun in diesem Shutdown ihren Höhepunkt finden, reichen weit zurück. Über drei Jahrzehnte lang hat sich eine Vielzahl von Problemen angesammelt, die von der Reformunfähigkeit der WTO zeugen - und das in einer Zeit, in der sich der Welthandel rasant entwickelt hat.

Seit Jahrzehnten sind die Konflikte in der WTO geprägt von den unterschiedlichen Interessen von Industrienationen auf der einen und Schwellenländern auf der anderen Seite. Es gab zahlreiche Auseinandersetzungen rund um geistiges Eigentum, Agrarsubventionen, Dienstleistungen und Marktzugänge, auch zwischen der EU und Schwellenländern wie China, Indien oder Brasilien. In dieser Gemengelage nehmen die Konflikte zwischen den USA und China eine Sonderrolle ein. Es ist vor allem diese Auseinandersetzung, die zum jetzigen Shutdown geführt hat.

Als China am 11. Dezember 2001 Mitglied der Welthandelsorganisation wurde, applaudierten zunächst die Verfechter des Freihandels in beiden politischen Lagern der USA. Die Regierung Bill Clinton hatte die Aufnahme forciert und die amerikanische Wirtschaft erhoffte sich große Vorteile, wenn nun die Preise für den Import chinesischer Güter sinken würden - und damit die eigenen Produktionskosten. Man hoffte auf Umsätze und Gewinne durch Zugänge zum chinesischen Dienstleistungsmarkt, zum Beispiel in der Telekommunikations-, Finanz- und Versicherungsbranche.

Die Aufnahme Chinas hatte ungeahnte Folgen

Ein Jahrzehnt später allerdings machten sich in den USA Ernüchterung und Kritik an Chinas Aufstieg zum WTO-Land breit. Bis dato hatten lediglich Wissenschaftler über den „China-Schock“ debattiert, der in einigen Regionen zu Verlusten von Arbeitsplätzen und Einbußen beim wirtschaftlichen Wachstum geführt hatte, weil Güter nicht mehr im Land selbst hergestellt wurden, sondern dank gesunkener Handelsbarrieren nun günstiger aus China importiert wurden. Seither gibt es eine breite öffentliche Debatte über Chinas aggressive Handelspolitik und deren negative Folgen auf die amerikanische Wirtschaft.

Im September 2009 verhängte US-Präsident Barack Obama Zölle, um die „schädliche Welle“ chinesischer Autoreifenimporte in die USA zu stoppen. In den Folgejahren bis 2016 reichte der amerikanische Handelsbeauftragte 13 Beschwerden gegen China bei der Welthandelsorganisation ein, die alle zugunsten der USA entschieden wurden. Schon bevor Donald Trump im Frühjahr 2018 Zölle von 25 Prozent auf chinesische Stahlimporte und von zehn Prozent auf chinesische Aluminiumimporte verhängte, waren diese Güter faktisch bereits vom US-Markt gebannt, durch Maßnahmen der Obama-Regierung.

Was schon die Regierung Barack Obama und in der Folge auch Donald Trump ärgerte, war, dass das Schiedsgericht der WTO seit 2002 in mehreren Grundsatzentscheidungen Maßnahmen zum Schutz amerikanischer Märkte verurteilt hatte. Schon die Regierung Obama sah darin einen Beleg dafür, dass das Gremium seine Zuständigkeiten überschritt. Gleichzeitig beklagten sich die USA darüber, dass es unter den Regeln der WTO umgekehrt nicht möglich sei, China wegen Verstößen gegen geistige Eigentumsrechte zu belangen. Schon die Regierung Obama blockierte in ihrer Frustration im Jahr 2016 sechs Monate lang die Nachnominierung eines Richters. Donald Trump ist allerdings der erste Präsident, der China außerhalb des Systems der Welthandelsorganisation konfrontiert.

Drei Optionen

Dass die Blockade des Schiedsgerichtes schnell gelöst wird, ist unwahrscheinlich. Mehrere Vorschläge der EU und anderer WTO-Mitgliedstaaten, das Schiedsgericht zu reformieren, haben die USA abgelehnt. Die EU und die Mitgliedsländer der WTO werden also mit der Situation leben müssen. Sie haben drei Optionen.

Sie können, erstens, die Situation, wie sie ist, akzeptieren und weiter versuchen, mit den USA über eine Reform des Schiedsgerichts zu verhandeln. Ein Vorschlag des neuseeländischen Botschafters bei der WTO, David Walker, sieht etwa vor, dass die Mitglieder anerkennen, dass das Schiedsgericht bislang nicht der Auslegung der Regeln und Verfahren der WTO gemäß gehandelt hat. Sie könnten eine Reihe von Forderungen der USA annehmen, zum Beispiel strengere Übergangsregelungen für scheidende Mitglieder des Schiedsgerichts, eine 90-Tage-Deadline für Berichte und eine Begrenzung der Berufungsverfahren auf diejenigen Informationen, die bereits in der ersten Instanz zusammengetragen wurden. Der Vorwurf der USA, das Gremium überschreite seine Kompetenzen, könnte damit allerdings womöglich immer noch nicht ausgeräumt sein.

Möglich wäre im Rahmen der Verhandlungen mit den USA auch, dass das Schiedsgericht Entscheidungen an einen Spezialausschuss und schließlich zurück an die Generalversammlung verweist, wenn eine Klagepartei mit dem Ergebnis der zweiten Instanz unzufrieden ist. Die Generalversammlung könnte dann mit einer Mehrheit von drei Vierteln der Mitglieder entscheiden. Eine weitere Option wäre es, dem Schiedsgericht besonders umstrittene Fälle für eine Zeit zu entziehen. Für Entscheidungen über die Rechtmäßigkeit von Schutzmaßnahmen zum Beispiel könnte auch ein eigenes Gremium eingerichtet werden.

Ein neues Schiedsgericht - ohne die USA?

Ein zweiter, proaktiverer Ansatz wäre es, wenn die EU gemeinsam mit anderen WTO-Staaten ohne die USA ein neues Schiedsgericht wählen würde. Die Generalversammlung könnte per Mehrheitsbeschluss darüber abstimmen. So würden die Mitgliedstaaten zwar vom regulären Prozess abweichen, es gäbe aber einige Artikel im WTO-Regelwerk, auf die sie sich dabei berufen könnten. Eine Richterwahl würde aber einer offenen Provokation der USA gleichkommen.

Artikel 25 erlaubt es den Mitgliedstaaten außerdem, auf alternative Schlichtungsverfahren umzusteigen, sollte kein Konsens gefunden werden. Dieser Ansatz hat allerdings mehrere Nachteile. Das Verfahren könnte kleinere Mitgliedstaaten benachteiligen, indem es sie zwingt, Verfahrensregeln anzuerkennen, die von größeren Mitgliedern wie China oder der EU vorgeschlagen werden und den großen Handelsmächten Vorteile verschaffen. Umgekehrt hätten die kleineren Länder die Möglichkeit, Entscheidungen zu blockieren, die sie wiederum für nachteilig halten.

Das könnte dazu führen, dass Streitfälle jahrelang unentschieden bleiben. Besser wäre es, möglichst viele Staaten einzubeziehen und sich per Vertrag auf ein festes Prozedere zu einigen, das dann für alle Fälle gilt. Damit ein solches Verfahren Wirksamkeit entfalten kann, müsste allerdings China mit einbezogen werden, das ergibt sich schon aus der hohen Zahl der bisherigen Streitfälle, die China betreffen: Laut dem ChinaPower Projekt, einem Forscherkonsortium in den USA, waren chinesische Handelspraktiken zwischen 2001 und 2018 Gegenstand von 63 Streitfällen mit neun verschiedenen Volkswirtschaften.

Alles könnte der USA Anlass sein, die WTO zu verlassen

Als dritten Ausweg könnte die EU Streitschlichtungsmechanismen nutzen, die in bilateralen und regionalen Freihandelsabkommen vorgesehen sind, zum Beispiel im Freihandelsabkommen zwischen der EU und Kanada (CETA) - statt über die WTO zu gehen. Diese Abkommen bieten allerdings über das hinaus, was über die WTO garantiert ist, wenig Rechtssicherheit bei zwischenstaatlichen Streitigkeiten. Der Handel mit wichtigen Partnern wie China und den USA - der etwa ein Drittel des internationalen Handels der EU ausmacht - wäre davon aber nicht abgedeckt.

Ein kostspieligerer Ansatz für die EU wäre es, auszuloten, ob andere Länder bereit wären, ein völlig neues Streitschlichtungssystem außerhalb der WTO aufzubauen. Donald Trump könnte das allerdings zum Anlass nehmen die Welthandelsorganisation ganz zu verlassen.

Die EU steht nun vor der schwierigen Aufgabe, Kosten und Nutzen dieser drei Wege gegeneinander abzuwägen. Ziel muss es sein, die Kosten für die europäischen Volkswirtschaften zu minimieren, jetzt und in der Zukunft. Dabei sollte sie eng mit Handelspartner wie Japan, Kanada, Mexiko und Indien zusammenarbeiten, um möglichst ein gemeinsames Verständnis für mittel- und längerfristige Auswege aus der Krise zu finden.

In jedem Fall führt kein Weg an einer eigenen europäischen Initiative vorbei. Die EU ist abhängig davon, dass der Welthandel Regeln folgt und diese Regeln funktionieren. Lässt sie zu, dass im Welthandel das „Gesetz des Dschungels“ herrscht, wie es EU-Handelskommissar Phil Hogan einmal formuliert hat, birgt das große Risiken für den Wohlstand in Europa.

Laura von Daniels, Susanne Dröge, Alexandra Bögner

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