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© Thilo Rückeis

Gregor Gysi: "Ein Vorbild habe ich nicht gefunden"

Der Fraktionschef der Linkspartei, Gregor Gysi, spricht mit dem Tagesspiegel über die neue Linke in Lateinamerika, die Hoffnung Kubas und ein Projekt, das die Welt retten könnte.

Herr Gysi, Sie haben in 21 Tagen acht Länder Lateinamerikas bereist: viel Aufwand – für viele neue Erkenntnisse?



Mein Ziel war, festzustellen, ob in Lateinamerika eine neue Linke entsteht. Denn die dortigen Staaten haben den Neoliberalismus als Erste angegriffen und überwunden, während die Linke in Europa abgesehen von Ausnahmen eher vor sich hindröselt. Vielleicht, hab ich mir gedacht, dreht sich ja die Geschichte und wir können mal was von Lateinamerika lernen statt umgekehrt.

Und: Können wir?

Ein Vorbild habe ich nicht gefunden. Wir müssen genau analysieren, was dort passiert, mit welchen Mitteln man wirksam oder nicht wirksam Armut, Analphabetismus, Krankheit oder eine überbordende Kriminalität bekämpfen kann.

Welche Antworten haben Sie erhalten?

Ich komme auch mit neuen Fragezeichen zurück. Was kennt man in Europa von diesem Kontinent? Man hat von Fidel Castro und Kuba gehört, von Hugo Chavez und Venezuela und von Lula und Brasilien, der Rest aber, denkt man, sei eine Soße – und das ist ein schwerer Irrtum. Ich habe viel zugehört und festgestellt: Die einzelnen Länder entwickeln sich sehr unterschiedlich. Mit zum Teil neuen und interessanten Ansätzen, mit zum Teil aber auch beachtlichen Schwierigkeiten und Spannungen. Für ganz wichtig halte ich: Sie lernen, zusammenzuarbeiten. Das ist neu. Und sie machen das in relativer Unabhängigkeit von den USA. Auch das ist neu. Die USA haben sich jahrzehntelang eingemischt. Aber haben sie je die Armut überwunden, den Analphabetismus, die Kluft zwischen Arm und Reich? Im Gegenteil. Sie müssten sich eigentlich schämen, wie sie Lateinamerika zurückgelassen haben.

Aus Ihrer Sicht: Wie kam es dazu?

Die USA sind durch den Wegfall der Sowjetunion geschwächt.

Das müssen Sie erklären.

Sie konnten ihr Vorgehen wie in Chile, wo sie den Militärputsch gegen Salvador Allende 1973 unterstützten, immer damit erklären, dass nach der kubanischen Revolution unter Fidel Castro eine weitere Ausdehnung des Sowjetsystems in ihrem Hinterhof nicht hinnehmbar sei. Das Argument zählt nicht mehr.

Sie haben von Schwierigkeiten und Spannungen gesprochen …

Überall, wo linke Präsidenten gewählt worden sind, gibt es innere Widersprüche, weil sie dort überall Präsidialdemokratien haben. Das heißt: eine große Macht des Präsidenten und eine geringere des Parlaments. Das ist für Bewegungen und Parteien immer schwierig.

Ist der Linksruck in Lateinamerika nicht schon wieder Geschichte?


Na ja. Das gefühlte Hoch ist schnell vorüber, wenn Prozesse länger dauern und die Schwierigkeiten beginnen. Aber: Von allen linken Präsidenten hat Lula, der als am wenigsten links eingeschätzt wird, die größten Erfolge. Woran liegt das? In anderen Ländern der Region ist die politische Klasse gespalten und hasst sich zutiefst: Da ist keine Konkurrenz, kein Wettstreit, sondern unversöhnlicher Hass. Das Problem daran ist dann, dass man zu wenig dazu kommt, sich um die Probleme des Landes zu kümmern.

Was also kann Europa lernen?

Seinen Handel und seine Entwicklungshilfe so zu gestalten, dass Arbeitslosigkeit, Armut, Analphabetismus und Krankheit damit überwunden werden. Außerdem hat mich das ITT-Projekt in Ecuador sehr beeindruckt, ein für Europa und die Welt wichtiges Projekt – wenn es gelänge, wäre es wirklich eine neue Antwort des 21. Jahrhunderts auf eine Kernfrage des Überlebens der Menschheit.

Worum geht es dabei?


Ecuador hat große Erdölvorkommen im Amazonasgebiet. Und die Regierung hat gesagt: Wenn die Weltgemeinschaft uns das Geld zahlt, das wir dadurch verlieren, dass wir das Öl nicht fördern, dann erhalten wir im Gegenzug für die Weltgemeinschaft den Urwald. Lateinamerika zeigt damit, dass eine bestimmte Ausbeutungsstruktur des Weltkapitalismus hinfällig geworden ist. Europa sollte sich also nicht auf der Idee ausruhen, dass der Kapitalismus gesiegt hat. Ich habe schon 1990 gesagt, er ist nur übrig geblieben. Er hat bei der Finanzkrise bewiesen, zu was er im negativen Sinne fähig ist. Und er wird die Umweltzerstörung nicht aufhalten.

Zu den Problemen der Region gehört die Menschenrechtslage. Wie steht es um den demokratischen Wandel auf Kuba?

Es gab zwei Dinge, die mich positiv überrascht haben. Eine selbstbewusste, kulturell lebendige Jugend beherrscht die Straßen, das gibt Anlass zur Hoffnung. Das Zweite ist: Raul Castro will demokratische Veränderungen. Die Privatisierung des Handwerks zum Beispiel ist ein wichtiger Schritt, weil dadurch andere Interessenstrukturen entstehen …

… den USA und der EU geht es vor allem um Menschen- und Bürgerrechte …

Die Todesstrafe ist abgeschafft. Das ist nicht nichts.

Aber Dissidenten hungerstreiken sich aus Protest zu Tode …


Das ist was anderes. Das ist selbst bestimmt, ob ich das mache oder ob ich das nicht mache. Ein Todesurteil kann ich nicht verhindern, auch wenn ich dagegen bin. Auf der anderen Seite ist klar: Was passiert, ist nicht genug. Ich bin ein demokratischer Sozialist und ich kenne die falsche Alternative, die da lautet: Soziale Gerechtigkeit schließt bestimmte Freiheiten aus – Freiheit schließt bestimmte soziale Gerechtigkeiten aus. Diese Alternative lasse ich nicht gelten. Man muss immer beides wollen.

Außenminister Westerwelle ist dieser Tage auch in Lateinamerika ...

Wo denn?

In Argentinien, Chile, Uruguay, Brasilien ...

Fast alles Länder, in denen ich nicht war: Das sieht abgesprochen aus – ist es aber nicht!

Gregor Gysi, 62, ist Fraktionschef der Linkspartei im Bundestag und hat drei Wochen die Karibik, Mittel- und Südamerika bereist. Das Gespräch führte Michael Schmidt.

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