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Der Augustusburger Bürgermeister Dirk Neubauer.

© dpa

Er glaubt zu wissen, wie man die Demokratie rettet: Was treibt einen engagierten Bürgermeister zum SPD-Austritt?

Dirk Neubauer gilt als Vorzeigebürgermeister, ist erfolgreich gegen die AfD. Aus Frust ist er aus seiner Partei, der SPD ausgetreten. Was ist schiefgelaufen?

Kürzlich hat im sächsischen Städtchen Augustusburg eine Gruppe Eltern demonstriert. Sie wollten sich dagegen wehren, dass ihre Schulkinder auf Corona getestet werden sollen. Die Demo stieß bei vielen auf Unverständnis. Dirk Neubauer tat dann trotzdem das, was er gerne tut bei solchen Gelegenheiten: Er ging hin und redete mit den Leuten. „Wenn sich Menschen sowieso schon ausgegrenzt fühlen, dann nehmen die doch nicht wieder am Diskurs teil, wenn wir sie weiter ausgrenzen“, sagt er.

Reden, zuhören, einbinden – das ist Neubauers Strategie. Er ist Bürgermeister von Augustusburg – einer Stadt mit knapp 5000 Einwohnern, Wahrzeichen ist ein oberhalb der Stadt gelegenes, weithin sichtbares Jagdschloss. Überregionale Aufmerksamkeit zog der frühere Journalist auf sich, weil er es geschafft hat, dass in seiner Stadt mitten in Sachsen die AfD kaum eine Rolle spielt. Sie sitzt nicht im Stadtrat. Bei der Bürgermeisterwahl 2020 bekam Neubauer, der für die SPD antrat, knapp 70 Prozent, der AfD-Kandidat 10. Neubauer glaubt, ein Rezept gegen die Rechten gefunden zu haben.

Und so schlug es in der Region dann entsprechend hohe Wellen, als vergangene Woche die Nachricht die Runde machte: Der prominente Bürgermeister ist aus seiner Partei, der SPD ausgetreten. Schnell hieß es dann, Neubauer sei aus Frust gegangen, weil mit der Bundesnotbremse auch das Augustusburger Corona-Modellprojekt eingestampft wurde. Doch der Ärger darüber war nur der Auslöser. Das Problem liegt tiefer. Und es ist auch eines für die Demokratie.

Um zu verstehen, was schiefgelaufen ist, muss man die Zeit ein bisschen zurückdrehen. Der 50-Jährige mit dem graumelierten Dreitagebart ist 2013 das erste Mal zum Bürgermeister gewählt worden. Eigentlich hatte er gar nicht vor, zu kandidieren, doch der SPD-Kandidat hatte sich wegen Drohungen zurückgezogen. Neubauer sprang ein, damals noch parteilos, wurde gewählt. Später trat er in die SPD ein. Neubauer wollte zeigen, dass man auch in Parteien etwas bewegen kann.

Modell für Veränderung

Bis vor kurzem las sich Neubauers Leben als Bürgermeister vor allem wie eine Erfolgsgeschichte. Sein großes Thema: Bürgerbeteiligung. Neubauer rief eine Mitmachplattform namens meinaugustusburg.de ins Leben, wo die Bürger Vorschläge machen konnten, was mit einem Teil der Gelder aus dem städtischen Haushalt passieren sollte. Er trieb die Digitalisierung in der Stadt voran – sein anderes Herzensthema. Neubauer kämpfte für Breitbandinternet, dafür, dass der Freistaat die Eigenanteile für die Kommunen beim Ausbau übernimmt. Bei alldem war es Neubauer wichtig, nicht nur Dinge auszuprobieren, sondern womöglich Modell zu sein für Veränderungen, die auch anderswo funktionieren können.

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Über die Jahre glaubt Neubauer verstanden zu haben, was schief läuft im politischen System in Deutschland und woher im Osten der Zulauf für die AfD kommt, die bei der Landtagswahl in Sachsen 27,5 Prozent holte. Die AfD – das schreibt Neubauer in seinem Buch „Rettet die Demokratie“ – sei nur ein Symptom für eine krankende Demokratie. Für viele Menschen sei es eine Art kleine Rache, bei der AfD ihr Kreuz zu machen. Es verschaffe ihnen Genugtuung, weil sie wüssten, wie sehr sie das System damit träfen. Neubauer glaubt, die Wut im Osten speise sich aus Übersehen-sein und Nicht-gehört werden. Aus vielen Ungerechtigkeiten: „Bürokratie, lebensferne Verwaltungspraxis und eine entrückte Politik, die für viele unterreichbar scheint.“

Die letzte Meile kampflos aufgegeben

Die Politik habe offenbar vor Jahren beschlossen, den kommunalen Politikraum zu entpolitisieren und alle Verbindungen zu kappen. Sie habe die letzte Meile zu den Bürgerinnen und Bürgern kampflos aufgegeben. Die Zahl derjenigen, die sich noch am untersten Ende der politischen Nahrungskette für eine Partei engagieren wollten, sinke. Bei Kommunalwahlen gebe es die Tendenz, dass Kandidatinnen und Kandidaten ihre Partei nicht auf den Wahlzettel druckten, um ihre Chancen zu erhöhen. Es sei eine Lücke entstanden zwischen Politik und dem wahren Leben. „Das lange schon schwelende ,die da oben‘ und ,wir hier unten‘ wurde so vom Gefühl zur Realität.“

Telefoniert man mit Neubauer, wird klar, was er als Lösung sieht. „Das Abwenden der Bürger von der Demokratie und der Politik hat auch damit zu tun, dass in den Orten und den Kommunen zu wenig entschieden wird“, sagt er. Die Kommunen seien finanziell desaströs ausgestattet, sie verwalteten den Mangel. Wolle er Brücke sanieren oder einen Sportplatz zu Ende bauen, sei das aus dem kommunalen Haushalt heraus nicht möglich. Er müsse einen Förderantrag stellen. Bis der bewilligt sei, habe sich das Projekt verteuert, so dass er schließlich Geld von der Bank leihen müsse. „Wenn ich Menschen permanent an einer Mangelwirtschaft beteilige, verlieren die irgendwann die Lust“, sagt Neubauer. „Wenn ich Leuten die Demokratie schmackhaft machen will, muss ich sagen: Misch dich ein, du kannst wirken.“

Anstatt des komplizierten Fördermittelsystems solle die Politik den Kommunen einfach einen Pauschalbetrag pro Kopf zur Verfügung stellen. Dann könnten die Kommunen ihre Bürger bei der Frage einbinden, wofür das Geld ausgegeben werden solle. Die Bundes- und Landesebene, so sieht es Neubauer, solle Rahmenbedingungen schaffen, ermöglichen und die Kommunen machen lassen. „Die Politik ist nicht dazu da, unseren Alltag zu überwachen und alles, was wir hier machen, nochmal zu überprüfen oder zu verhindern.“

„Was eigentlich ist Ihr Schmerz?“

Neubauer ist auch davon überzeugt, dass es für das Funktionieren der Demokratie wichtig ist, allen die Hand zu reichen – auch denen, die die AfD wählen. Oft steht bei ihm jemand im Büro, wütend. Ohne „Guten Tag“ geht es los mit einer Schimpftirade.  „Atmen Sie durch, setzen Sie sich, ziehen Sie die Jacke aus, schön, dass Sie da sind“, sagt Neubauer dann. Er lässt den Gast reden, irgendwann fragt er: „Was eigentlich ist Ihr Schmerz?“ Und immer haben die Leute etwas zu erzählen. Oft könne man gar nichts machen, aber allein das Zuhören helfe, sagt Neubauer. „Das kriegen wir nur über die Kärrnerarbeit vor Ort hin.“

Auch zu Beginn der Flüchtlingskrise 2015 berief er eine Bürgerversammlung in der örtlichen Mehrzweckhalle ein. Stellte sich mit einem Funkmikro mitten in den Raum und redete mit den Leuten. „Natürlich haben da welche angefangen zu brüllen, aber sie haben gemerkt, dass sie in der Minderheit waren.“ Dieser Abend habe darüber entschieden, dass es in der Stadt mit dem Thema später wenig Probleme gegeben habe. Die Mehrheitsverhältnisse waren geklärt.

„Hat schon seinen Grund, dass die AfD noch kein Rathaus hat“

Klingt das nicht alles ein bisschen zu einfach? Natürlich, sagt Neubauer, gebe es auch Menschen, die die AfD aus purer Überzeugung wählten, die auch mit der Demokratie nichts am Hut hätten. Aus seiner Sicht sind dafür die Bürgermeisterwahlen aber ein guter Grasmesser. Dieser Bereich erscheine vielen Menschen noch als relevant, erlebbar. „Wer hier die AfD wählt, das sind die echten Überzeugungstäter. Aber es hat schon seinen Grund, dass die AfD noch kein Rathaus hat.“

Mit den Jahren als Bürgermeister kam Neubauer aber auch zu dem Schluss, dass man als Einzelkämpfer in einer Parteiendemokratie nur begrenzte Möglichkeiten hat, Probleme grundsätzlich zu lösen. Nur war ja genau das sein Anspruch gewesen. Also beschloss Neubauer, es in einer Partei zu versuchen. Seinen Eintritt in die SPD beschreibt Neubauer als „ politischen Selbstversuch“, als „Praxistest für unser Parteiensystem“. Er habe herausfinden wollen, ob Änderungsimpulse wirklich grundlegend zum Scheitern verurteilt sind.

Enttäuschender Wahlkampf

In seinem Buch schildert er die Momente der Frustration und des Befremdens. Da ist etwa die Vorbereitung des Landtagswahlkampfes 2019. Mit einer Mischung aus Zivilgesellschaft, Kommunal- und Landespolitik habe man sich zu einer Wochenendklausur getroffen, um über die wahren Probleme vor Ort zu reden. „Gefühlt hatten wir eine echte Perspektive erarbeitet“, schreibt Neubauer. Doch es folgte Schweigen, dann eine Einladung zu einer Agentur nach Dresden. Die präsentierte die Kampagnenvorschläge für den kommenden Wahlkampf. „Leider hatten die Schwerpunkte mit dem, was an jenem Hoffnungswochenende erarbeitet worden war, fast nichts mehr zu tun. Stattdessen wurden Umfragen bemüht.“

Der Wahlkampf sei enttäuschend gewesen. Und nach dem desaströsen von 7,7 Prozent habe es keine Aufarbeitung gegeben. „Die ,beste SPD aller Zeiten‘ hatte einen tollen Wahlkampf gemacht, hieß es. Leider hatten ihn nur die Wählerinnen und Wähler nicht verstanden.“

In den anschließenden Koalitionsverhandlungen zwischen CDU, SPD und Grünen war Neubauer sogar dabei, saß in einer von zehn Verhandlungsgruppen. Seinem Herzensthema Digitalisierung seien in den Koalitionsverhandlungen gerade einmal zwei Tage gewidmet worden. Zwar sei zunächst sein Konzept im Vertrag gelandet, ein Milliardenprojekt mit konkreten Maßnahmen. Doch die konkrete Summe sei aus dem Vertrag gestrichen worden, eine Chance auf Umsetzung hätten die Vorschläge damit nicht mehr gehabt. Am Ende herausgekommen sei nun nur eine Digitalagentur, deren Ziele unklar seien. „Da bin ich endgültig auf dem Boden der Tatsachen gelandet“, sagt Neubauer.

Neubauer hat sich entschieden

Das Ende von Neubauers Parteikarriere kam dann Ende April. Der Bürgermeister hatte in der Pandemie früh ein Testzentrum auf die Beine gestellt, eine Person für mobile Testungen eingestellt und schließlich dafür gesorgt, dass die Stadt zum Modellprojekt für Öffnungsschritte wurde. „Das war das einzige wissenschaftlich begleitete Projekt. Wir hätten noch eine Woche gebraucht, um es zu beenden“, erzählt Neubauer. Doch dann kam die Bundesnotbremse und das Projekt wurde gestoppt.

Die Landesregierung hätte das verhindern können, wenn sie wirklich gewollt hätte, glaubt Neubauer. Das sei der Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen gebracht habe. Für das Modellprojekt hätten sich vor Ort viele Leute ins Zeug gelegt, hätten viel geleistet, sie seien enttäuscht worden. „Irgendwann ist der Punkt erreicht, wo man sich für eine Seite entscheiden muss“, meint er. Und Dirk Neubauer hat sich entschieden. Für seine Leute, nicht die Partei.

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