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Gedenkmarsch in Köthen am Montag, 9. September

© Reuters/Hannibal Hanschke

Köthen in Sachsen-Anhalt: Familien demonstrierten Seite an Seite mit Neonazis

Warum reihten sich am Sonntag normale Bürger in eine von Rechtsextremen organisierte Demo ein? Zur Kundgebung am Montagabend kamen dann weniger Menschen.

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Ein 22-jähriger Deutscher ist in Köthen in Sachsen-Anhalt nach einem Streit mit zwei Männern aus Afghanistan an Herzversagen gestorben. Weder der Grund für den Streit noch die näheren Umstände sind bislang bekannt. Am Sonntag und am Montagabend wurden von Rechtsextremen, beziehungsweise vom AfD-Abgeordneten Hannes Loth, "Trauermärsche" organisiert und angemeldet. Dabei liefen Rechtsradikale Seite an Seite mit ganz normalen Familien aus Köthen.

Während am Sonnabend etwa 2500 Menschen demonstrierten, beteiligten sich am Montagabend bei dem von Loth angemeldeten Marsch nach Polizeiangaben bis zu 550 Menschen beteiligt. Die mit einem Großaufgebot angerückte Polizei sprach nach ersten Erkenntnissen von einem eher friedlichem Verlauf, während es bei einer Montagsdemo in Halle zu hässlichen Szenen kam.

Wie schon am Vortag kreiste am Montagabend über Köthen, einer Stadt mit gut 26.000 Einwohnern, ein Hubschrauber. Eine Reiterstaffel der Polizei ritt durch die Innenstadt. Auch ein Wasserwerfer stand bereit. Nach einer Schweigeminute und einer kurzen Kundgebung auf dem Markt zogen die Teilnehmer durch die Innenstadt zu dem Schauplatz der Auseinandersetzung, einem Spielplatz. Dort wurde ein Kranz der AfD Sachsen-Anhalt im Gedenken an den 22-jährigen Toten niedergelegt - den Bruder eines bekannten Rechtsextremen aus Köthen.

Dem Augenschein nach beteiligten sich am Montagabend vor allem Menschen aus Köthen und der Region an der AfD-Kundgebung. Laut Polizei gab es zunächst keine Strafanzeigen. Im Zusammenhang mit der Demonstration am Vortag hatte die Polizei zunächst zehn Anzeigen registriert. Innenminister Stahlknecht zog ein positives Fazit. „Wir haben die Versammlungsfreiheit garantiert und einen starken Staat demonstriert“, sagte er der Deutschen Presse-Agentur. Er dankte allen Polizisten.

Am Sonntag demonstrierten viele Familien

Für viele Köthener war der sogenannte Trauermarsch am Sonntag ein Familienereignis. Gerade zu Beginn demonstrierten zahlreiche Eltern zusammen mit ihren Kindern, teilweise kaum älter als zehn Jahre. Andere beobachteten den Aufzug mit ihren Familien aus ihren Wohnungsfenstern. Rechtsradikale waren schon zu diesem Zeitpunkt deutlich als Teil der Menge zu erkennen, etwa durch szenetypische Kleidung und Tätowierungen. In den späteren Abendstunden traten dann die Akteure der rechten Szene in den Vordergrund: David Köckert, Chef des rechtsextremen Thüringer Pegida-Ablegers „Thügida“, beklagte in seiner Rede einen „Rassenkrieg gegen das deutsche Volk“ und forderte dazu auf, Gegner zu Hause aufzusuchen, um Gewalt gegen Deutsche „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ zu vergelten. Deutschlands Politiker beschimpfte er als „Mistmaden“. Hunderte applaudierten.

Andere Redner hetzten gegen „Halbneger“ und „die kranke Republik“, die durch einen Umsturz abgeschafft werden müsse. Mehrfach grölten Rechte: „Nationaler Sozialismus, jetzt, jetzt, jetzt!“ Auch manch bürgerlich anmutender Demonstrant entpuppte sich später als polizeibekannter Rechtsextremist: Bei der jungen Frau etwa, die sich der Menge als besorgte Mutter von drei Kindern und überzeugte Demokratin vorstellte, handelte es sich in Wahrheit um Jennifer R., Aktivistin vom „Nationalen Kollektiv Anhalt“ und Stieftochter eines bekannten Neonazis. Auf einer zweiten Kundgebung am Montagabend verbarg sie ihre Gesinnung nicht mehr: Da versprach sie, kritische Journalisten und Linke würden „bald brennen“.

Wie funktionieren die Netzwerke der Rechten? Wer sind die Akteure?

Köthen gilt seit Jahren als rechte Hochburg, bei der Bundestagswahl im vorigen Jahr kam die AfD im Landkreis auf 22 Prozent. Darüber hinaus gibt es im Ort eine aggressive Neonazi-Szene. Mitgliedern der Gruppe „Nationaler Widerstand Köthen“ werden Brandanschläge auf ein Flüchtlingsheim sowie die Schändung des jüdischen Friedhofs zugeschrieben. Ein Teil der Rechtsradikalen, die Sonntagabend durch den Ort zogen, lebt also tatsächlich in Köthen – die große Mehrheit wurde allerdings über das Internet mobilisiert und reiste von außerhalb an: aus nahe gelegenen Städten wie Dessau, Bitterfeld und Halle sowie den angrenzenden Bundesländern.

Den Ablauf der Veranstaltung dominierten die Anhänger von Thügida, allen voran der gesichtstätowierte Neonazi David Köckert, der auch schon in Chemnitz demonstriert und vergeblich versucht hatte, das Festival #Wirsindmehr mit einer eigenen Kundgebung zu stören. Journalisten, die über Köckerts Aktivitäten in Chemnitz berichteten, droht er mit Rache. Beim zweiten Aufmarsch am Montagabend zogen dann noch einmal 500 Menschen durch die Innenstadt, deutlich weniger als erwartet. Hierzu hatten unter anderem AfD-Rechtsaußen André Poggenburg, langjährige NPD-Kader sowie Neonazi Tommy Frenck, der Veranstalter des Rechtsrockfestival in Themar, aufgerufen. Die Polizei sprach von einem „weitestgehend störungsfreien Abend“.

Wie ist der Stand der Ermittlungen?

Die Polizei geht derzeit von Körperverletzung mit Todesfolge aus. Zwei junge Männer aus Afghanistan, 18 und 22 Jahre alt, sitzen deshalb seit Sonntagabend in Untersuchungshaft. Sie waren neben mindestens zwei Deutschen an der Auseinandersetzung beteiligt, die genauen Umstände des Streits sind nach wie vor nicht geklärt. Der junge Deutsche ist laut Obduktion an Herzversagen gestorben. Die Afghanen waren als unbegleitete minderjährige Flüchtlinge nach Deutschland gekommen. Einer der beiden Afghanen stand vor der Abschiebung aus Deutschland.

Laut Landesinnenminister Holger Stahlknecht (CDU) war eine Abschiebung bereits Ende April vorgesehen, konnte jedoch aufgrund laufender Ermittlungsverfahren, unter anderem wegen gefährlicher Körperverletzung, nicht durchgeführt werden. Ende August hatte der Landkreis Anhalt-Bitterfeld dann einen neuen Antrag auf Abschiebung gestellt. Am 6. September, zwei Tage vor dem tödlichen Zwischenfall in Köthen, erteilte die zuständige Staatsanwaltschaft ihr Einvernehmen zur Abschiebung. Der andere tatverdächtige Afghane habe eine Aufenthaltsgenehmigung und sei nicht ausreisepflichtig, erklärt der Innenminister.

Wie ist die Stimmung in Köthen?

Den gesamten Montag über haben sich Menschen zur Trauerstelle am Karlsplatz begeben, Blumen niedergelegt und Kerzen angezündet. Ein junger Vater erzählt, dass er am Vorabend keine Zeit hatte, weil er sich um sein Kind kümmern musste. Er sei aber stolz darauf, „was die Stadt hier auf die Beine gestellt hat“. Auch eine Gruppe Schüler hat sich zusammengefunden. Am Abend zuvor wollten ihre Eltern sie nicht rauslassen – aus Angst vor Ausschreitungen. Jetzt würden sie das Verpasste nachholen, sagen sie, inklusive Schuldzuweisungen in Richtung Angela Merkel. Vielleicht werde die deutsche Kanzlerin von höheren Kräften gesteuert, wird diskutiert. Die Schüler werden sich nicht einig.

Auch an anderen Ecken der Stadt stehen Menschengruppen und tauschen sich über Sonntag aus. Rechte verbreiten die Verschwörungstheorie, das Opfer sei in Wahrheit erschlagen worden, die Bundesregierung verschweige das und erfinde die Version vom Herzversagen. Abends geht die Nachricht um, dass vor dem Schwimmbad Autos brennen – dazu das Gerücht, es handele sich doch ganz sicher um einen Racheakt von Linken. Ein aus Syrien stammender Mann in einem arabischen Spezialitätenladen sagt, dass er am Sonntag frühzeitig nach Hause gegangen sei und gebetet habe. Er sagt, er habe Angst vor Szenen wie in Chemnitz. Ein anderer Mann schimpft über Flüchtlinge, beschwert sich darüber, dass sie nicht arbeiteten und sich trotzdem alles leisten könnten, weil der Staat sie beschenke. Nach der Stimmung in der Stadt befragt, bricht er in Tränen aus.

Haben die Behörden in Köthen anders reagiert als in Chemnitz?

Schon beim Aufmarsch am Sonntag fiel die massive Polizeipräsenz auf. Dazu waren mittags Hundertschaften aus Berlin und Niedersachsen angefordert worden. Auch die Journalisten vor Ort berichteten, dass sie sich dank der vielen Polizisten weitaus sicherer fühlten als zuletzt in Chemnitz – ein Fotograf sagt: „Ohne die hätte keiner von uns hier arbeiten können.“ Man habe den Eindruck gehabt, dass sich die Beamten Mühe gaben, nicht das desaströse Bild ihrer sächsischen Kollegen abzugeben. Dennoch kam es auch am Sonntag wieder zu zwei körperlichen Übergriffen auf Reporter, die von der Polizei nicht verhindert wurden. Manche andere Straftaten wurden ebenfalls nicht geahndet. Ein Teilnehmer konnte seine Jacke mit einem Hakenkreuzaufnäher auf der Demonstration ungehindert tragen.

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