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Politik: Fast alle Firmen profitierten von Arbeitssklaven (Interview)

Der Historiker Ulrich Herbert über die Verpflichtung der deutschen Wirtschaft, Entschädigungen zu leistenUlrich Herbert (49) ist Professor für Geschichte an der Universität in Freiburg. Er gilt als einer der besten Kenner der Zwangsarbeit in Nazideutschland.

Der Historiker Ulrich Herbert über die Verpflichtung der deutschen Wirtschaft, Entschädigungen zu leisten

Ulrich Herbert (49) ist Professor für Geschichte an der Universität in Freiburg. Er gilt als einer der besten Kenner der Zwangsarbeit in Nazideutschland. 1985 erschien von ihm die Untersuchung "Fremdarbeiter", veröffentlicht im Bonner Dietz Verlag, die als Standardwerk gilt. Viel beachtet wurde auch seine biografische Studie über den SS-Intellektuellen Werner Best. Mit Ulrich Herbert sprach Stefan Reinecke.

Demnächst wird es wahrscheinlich eine Einigung über die Entschädigung der Zwangsarbeiter geben. 55 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Warum erst jetzt?

Die kurze Antwort lautet: Die Deutschen haben nach dem Krieg Zwangsarbeit nicht als ein NS-spezifisches Unrecht angesehen - und deshalb wollten sie es auch nicht als solches entschädigen.

Und die lange Antwort ?

Die lautet: Wegen der Verwicklungen des Kalten Krieges sind keine Entschädigungen nach Osteuropa geflossen. Der deutschen Seite ist es, mit Unterstützung der USA, gelungen, die Entschädigung für Zwangsarbeit nicht als individuelle Forderung zu definieren, sondern als Teil der Reparationen. Die Reparationsfrage sollte aber erst mit einem Friedensvertrag geklärt werden. Dann kam 1953 die Londoner Schuldenkonferenz, die die Zahlung der Nachkriegsschulden regelte. Hier wurde festgelegt, dass erst nach einem Friedensvertrag über Reparationen zu reden ist. Deshalb hat sich bis 1989 nicht viel bewegt. Das wollte die Bundesregierung eigentlich auch nach 1990 aufrechterhalten. Doch dann wurden die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen von internationalen und nationalen Gerichten zum Äquivalent für einen Friedensvertrag erklärt. Damit war die Entschädigungsfrage für Zwangsarbeit wieder offen, die praktisch fast 50 Jahre lang eingefroren war.

Wie wichtig waren die Zwangsarbeiter für Deutschland vor 1945?

Ohne Zwangsarbeit wäre der Krieg spätestens seit dem Herbst 1941 nicht mehr zu führen gewesen, sowohl wegen der Ernährungslage als auch wegen der Produktion.

Und nach 1945? Wäre das Wirtschaftswunder so schnell ohne Zwangsarbeiter möglich gewesen?

Richtig ist, dass während des Krieges die industriellen Produktionsanlagen quantitativ und qualitativ in ganz erheblichem Maße erweitert worden sind - nach seriösen Schätzungen etwa um 30 Prozent. Insofern waren die Ausgangsbedingungen für die deutsche Industrie nach dem Kriege, als erst einmal die Infrastruktur wiederhergestellt war und durch die amerikanischen Kredite auch Investitionsmöglichkeiten bestanden, auf Grund dieser erheblich erweiterten Grundlage sehr gut. Und es ist in der Tat so, dass diese erweiterten und modernisierten Produktionsanlagen ohne Zwangsarbeiter nicht möglich gewesen wären.

Die Entschädigungssumme wird etwa 10 Milliarden betragen. Davon zahlt, nach Abzug der Steuern, die Wirtschaft 2,5, der Staat 7,5. Ist das angemessen?

Bisher hat nur fast nur der Staat gezahlt. Das war beim Bundesentschädigungsgesetz 1953 so, das gleiche gilt für Pauschalzahlungen an Israel, für Zahlungen in den 50er Jahren an westeuropäische Staaten. Und für verdeckte Formen der Entschädigung, etwa den Milliarden-Kredit für Polen in den 70er Jahren. Die deutschen Unternehmen sind hingegen vor Entschädigungsforderungen konsequent durch die deutsche Rechtsprechung geschützt worden. Insofern ist es verständlich, dass nun auch Unternehmen zahlen sollen. Allerdings hatten auch die öffentlichen Arbeitgeber Zwangsarbeiter. Und auch der Staat hat von der privatwirtschaftlichen Ausbeutung profitiert. Denn die Arbeitgeber mussten damals hohe Abgaben an den Staat abführen: Für KZ-Häftlinge 4 DM pro Tag, für sowjetische Zwangsarbeiter einen Teil des sonst üblichen Lohns.

Viele Firmen argumentieren: Warum sollen wir zahlen? Was haben wir mit der Vergangenheit unserer Firmen zu tun?

Erstmal: So wie es das gute Recht der Opfer ist, sich Anwälte zu nehmen, ist es das gute Recht der Firmen, sich zu verteidigen. Zudem sieht das in Einzelfällen sehr unterschiedlich aus. Wenn ein Firmenteil von einer anderen Firma übernommen wurde, gilt: Man kauft eben nicht nur den Namen, sondern auch auch die Geschichte. Anders sieht das in der Ex-DDR aus, wo die Betriebe nach 1945 verstaatlicht worden und nach 1990 privatisiert worden sind. Allerdings wird heute oft so getan, als handele es sich bei den Firmen mit Zwangsarbeitern um Ausnahmen. Ganz falsch: Es ist den Historikern bis heute nicht gelungen, auch nur einen einzigen Betrieb in der produzierenden Wirtschaft ausfindig zu machen, der damals keine Zwangsarbeiter beschäftigt hat. Zwangsarbeiter waren der Normalfall - vom Großunternehmen mit 85 Prozent Zwangsarbeitern bis zur Schmiedepresse mit 35 deutschen Mitarbeitern und sechs Ukrainern.

Das zweite Problem ist: Wie sollen diese 10 Milliarden, wenn sie zusammengekommen sind, verteilt werden? Was halten Sie von dem deutschen Stiftungsgesetz?

Der erste Entwurf, den das Finanzministerium vorgelegt hat, war sehr problematisch. Denn hier sollte der alte deutsche Rechtsstandpunkt - nämlich dass Zwangsarbeit kein spezifisches NS-Unrecht sei und deswegen auch nicht entschädigungsfähig -, durch die Hintertür erneut durchgesetzt werden. Denn laut diesem Entwurf sollten nur solche Zwangsarbeiter entschädigt werden, die in KZs oder in bewachten, umzäunten Lagern leben mussten. Damit wären etwa zwei Drittel der osteuropäischen Zwangsarbeiter ausgeklammert worden.

Warum?

Weil die meisten Lager, in denen Zwangsarbeiter lebten, nicht eingezäunt und bewacht waren. Russen und Polen mussten Abzeichen auf ihrer Kleidung tragen, eine Flucht war ohnehin unmöglich. "Unser Gefängnis hieß Deutschland" - so hat es ein polnischer Zwangsarbeiter einmal gesagt.

Warum hat das Finanzministerium so argumentiert?

Das weiß ich nicht. Es gibt zwei Möglichkeiten. Die eine ist mangelnde Kenntnis, die andere die Meinung, dass es sich bei der Zwangsarbeit um eine Art von verschärfter Gastarbeiterbeschäftigung gehandelt hat. Mit der damaligen Wirklichkeit hat das nichts zu tun.

In der öffentlichen Debatte stehen die jüdischen Zwangsarbeiter im Mittelpunkt. Geht es denn vor allem um diese?

Quantitativ, nein. Im Herbst 1944 waren etwa 5 Millionen ausländische Zivilarbeiter in Deutschland, davon höchstens 100 000 jüdische Zwangsarbeiter. Doch heute spricht man vorwiegend von den Juden. In TV-Nachrichten werden Meldungen über Zwangsarbeiter in der Regel mit Bildern von Juden oder KZ-Häftlingen illustriert. Das ist eigentümlich; so als ob das Bild eines typischen, zivilen Zwangsarbeiters - etwa eines 17-jährigen Mädchens aus Kiew - nicht gegnügend, nicht ausreichend wäre.

Ein Streitfall sind jene Zwangsarbeiter, die in der Landwirtschaft gearbeitet haben. Sollte diese Gruppe auch entschädigt werden?

Es gibt Hinweise, dass es die landwirtschaftlichen Arbeiter insgesamt besser hatten als die in der Industrie. Aber solche Relativierungen werden schnell makaber. Denn wir reden über Menschen, viele Jugendliche, 14, 16 Jahre alt, die von zu Hause verschleppt worden sind. Und nur weil sie nicht bei Krupp, sondern in einem Dorf bei Herford gelandet sind, sollen sie nichts bekommen? Dahinter steckt nach wie vor die Vorstellung, dass nicht Zwangsarbeit, sondern nur die schlechten Bedingungen zur Debatte stehen. Das ist der alte deutsche Rechtsstandpunkt.

Die deutsche Seite hat lange gefordert, dass bereits gezahlte Entschädigungen, etwa für KZ-Haft, angerechnet werden sollen. War das richtig?Nein. Dies ist ein Fonds für Zwangsarbeit, nicht für allgemeine Entschädigung. Nehmen wir an, jemand hat im KZ ein Bein verloren oder ist lungenkrank geworden. Nun soll er kein Geld für die Zwangsarbeit bekommen, weil man sagt: "Du hast doch schon für dein amputiertes Bein oder die lange KZ-Haft Geld bekommen." Das ist doch etwas merkwürdig. Hinzu kommt, dass die, die bereits schon eine Entschädigung bekommen haben, wirklich nur ein kleiner Teil sind. Außerdem sind sie jene, die am meisten gelitten haben.

Hat die deutsche Seite versucht, den Kreis der Anspruchsberechtigten klein zu halten, um eventuell einfach weniger bezahlen zu müssen?

Das glaube ich nicht, es gibt ja eine Vereinbarung über die Summe von 10 Milliarden. Das Problem ist: wie viel geht nach Osteuropa, wieviel in den Westen? Es ist so, dass auf Seiten der westlichen Vertreter, ein Teil der jüdischen Organisationen, ein Teil der Vertreter der jüdischen KZ-Häftlinge, höhere Zahlungen für diese zahlenmäßig kleinste Gruppe will als die Vertreter der osteuropäischen Staaten. Natürlich gibt es auch Opferkonkurrenz, das ist wohl so und auch nicht zu vermeiden ... Die Frage müssen wahrscheinlich die Deutschen nicht entscheiden. Meiner Meinung nach sollte ein Aspekt auch die heutige Bedürftigkeit der Opfer sein. Den meisten osteuropäischen Zwangsarbeitern geht es ziemlich schlecht. 5000 DM oder auch 1000 DM, das kann für eine alte Frau in der Ukraine bedeuten: Heizung oder keine Heizung in ihrer Wohnung. Das muss man berücksichtigen.

Die Verhandlungen haben lange gedauert. Was das nötig?

Offenbar. Die deutsche Seite hat ja einen Lernprozess durchgemacht. Vor einem Jahr wollte man die Sache noch mit einer Milliarde für alle Zeit erledigt haben. Auch der Einwand, hier sei zu lange "gefeilscht" worden, ist nicht plausibel. Es geht um große Summen. Das muss ordentlich ausgehandelt werden, und zwar von Leuten, die etwas davon verstehen. Seit Lambsdorff die Verhandlungsführung übernommen hat, ist das auch auf deutscher Seite der Fall. Das Wichtigste ist aber, dass bald mit der Auszahlung begonnen wird. Denn das Ganze hat nur einen Sinn, wenn die Leute, um die es geht, tatsächlich noch Geld bekommen. Von Erfolg kann man reden, wenn die alte Frau in der Ukraine eine Heizung hat.

Demnächst wird es wahrscheinlich eine Einigun

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