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Fans der Fußball-Nationalmannschaft von Katar im Khalifa-Stadion in Doha.

© Andreas Gebert/dpa

Jubel über den Gräbern: Fußball-WM in Katar – die deutschen Fans sollten sie boykottieren

Die Fußball-WM im Emirat ist absurd, grotesk und zynisch. Je näher das Datum rückt, desto schwerer fällt die Verdrängung. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Angepfiffen wird am 20. November, dem Totensonntag. Das passt. Da soll der Verstorbenen gedacht, und die Trauernden sollen getröstet werden. Gleich zum Eröffnungsspiel wird somit an Wesentliches erinnert. An Tod und Trauer.

Wie viele Arbeitsmigranten sind auf den Baustellen in Katar ums Leben gekommen, damit dort, in der Wüste, die Fußball-Weltmeisterschaft stattfinden kann? Die Schätzungen schwanken, sicher waren es Tausende. Sie kamen aus Ländern wie Nepal, Sri Lanka und Bangladesch, waren bitterarm, wurden ausgebeutet, diskriminiert, geschunden. Das alles ist von Menschenrechtsorganisationen, Medien und dem Internationalen Gewerkschaftsverband dokumentiert.

Augen zu und durch, der Ball soll rollen

Trotzdem: Alle machen mit, schauen verschämt zur Seite, wenn sie mit Fragen zur Humanität und zu den Grundlagen der Moral konfrontiert werden. Jetzt noch absagen und die WM boykottieren? Zu spät, heißt es dann. Das nütze niemandem, die Spieler seien vorbereitet und wären um ihren Lebenstraum gebracht. Der Ball soll rollen.

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Außerdem ließe sich ein Wiedergutmachungsfonds einrichten, aus dem Familien entschädigt werden, die ihre Angehörigen verloren haben. Katar ist reich. Da kämen hohe Summen zusammen. Bei einer Gesamtinvestitionssumme für die Ausrichtung der WM in Höhe von 50 Milliarden Dollar könnte sich Scheich Mohammed Hamad bin Chalifa Al Thani, der Mentor der WM-Bewerbung, auch diesbezüglich ein wenig spendabel zeigen. Also: Augen zu und durch. Wenn erstmal Tore fallen, wird das Genörgel schon aufhören.

Die Stimmen von drei Fifa-Funktionären waren gekauft worden

Doch je näher das Datum rückt, desto schwerer fällt die Verdrängung. Wie klingt Jubel über ein Tor, der über Gräbern erschallt? Wie fühlt sich Freude über einen Sieg an, der erkauft wurde mit dem Leid von Hinterbliebenen? Immer quälender dringt ins Bewusstsein, wie absurd, skandalös und menschenverachtend diese Fußball-WM ist. Wo anfangen, wo aufhören?

Bei der fatalen Vergabe vielleicht vor zwölf Jahren, als sich das Emirat überraschend gegen die USA, Südkorea, Japan und Australien durchgesetzt hatte. Acht Jahre später kam heraus, dass entscheidende Stimmen von drei Fifa-Funktionären gekauft worden waren. Doch da waren die Bauarbeiten in Katar schon weit fortgeschritten, die Fifa hatte Angst vor Schadensersatzforderungen. Außerdem nimmt es der Weltfußballverband mit Bestechung und Korruption traditionell nicht so genau.

Spielfeld und Sitzplätze in den acht Stadien werden luftgekühlt

Oder die Hitze. In klimatisierten Flugzeugen landet der Besucher auf dem klimatisierten Flughafen Doha, steigt in ein klimatisiertes Taxi, das ihn in sein klimatisiertes Hotel bringt. Im Sommer steigen die Temperaturen in Katar auf mehr als 50 Grad. Daher wurde das Turnier ausnahmsweise in die Adventszeit verlegt. Trotzdem wird es warm sein. Spielfeld und Sitzplätze in den acht Stadien werden durch Ventilatoren und riesige Gebläse luftgekühlt. Angeblich basiert die Technologie auf Solarenergie.

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Die deutschen Fans wiederum müssen, um ihr Gewissen nicht zusätzlich zu belasten, vollkommen frei von jeglicher Flugscham sein. Katar ist klein, kleiner als Schleswig-Holstein. Auch die Hauptstadt Doha ist klein, die Hotelkapazitäten sind begrenzt. Das deutsche Fancamp musste deshalb ausquartiert werden nach Dubai, in die größte Stadt der Vereinigten Arabischen Emirate, rund 650 Kilometer entfernt. Die Schwarz-Rot-Gold-Fans werden also zu jedem Spiel der Nationalmannschaft ein- und ausgeflogen. Die Sache mit dem Bierausschank in dem islamischen Land muss noch geklärt werden.

Der Whistleblower landete im Gefängnis

Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) wiederum zieht die Abgeschiedenheit vor und wich in ein rund hundert Kilometer entferntes Luxusquartier im Norden des Landes aus. Das Resort gehört der Immobilienfirma „Msheireb Properties“. In der „Sportschau“ berichtete ein ehemaliger Gastarbeiter von ausbeuterischen Lebens- und Arbeitsbedingungen in der Hotelanlage. Der Whistleblower landete später im Gefängnis.

Überhaupt ist das Emirat nicht gut auf seine Kritiker zu sprechen. Anfang Mai 2015 wurde ein Fernsehteam der BBC verhaftet und zwei Nächte lang festgehalten, weil es die Arbeitsbedingungen der Niedriglohnmigranten recherchieren wollte. Aus demselben Grund wurden im November 2021 zwei norwegische Journalisten verhaftet und 36 Stunden lang inhaftiert. Erst nach einem Bericht von Amnesty International vom April 2022, in dem schwere Menschenrechtsverletzungen in Form von Zwangsarbeit angeprangert wurden, versprachen die katarischen WM-Organisatoren, gegen die systematische Ausbeutung der Arbeiter vorzugehen.

Homosexualität ist verboten und kann für Muslime die Todesstrafe bedeuten

Warum Katar? Zum Zeitpunkt der Fifa-Entscheidung für das Land stand es auf Platz 113 der Weltrangliste. Hauptquelle der Rechtsprechung ist die Scharia. Eine Frau, die ein uneheliches Kind zur Welt bringt, landet für zwölf Monate im Gefängnis, außerehelicher Geschlechtsverkehr wird mit bis zu sieben Jahren Haft bestraft, Homosexualität ist verboten und kann für Muslime die Todesstrafe bedeuten.

Katar unterstützt die islamistischen Muslimbrüder ebenso wie die Hamas. Die Regierung duldet, dass katarische Privatpersonen Millionenbeträge an den Islamischen Staat, Al Qaida und die Hisbollah überweisen. Von einer „WM der Schande“ spricht Amnesty International. Die Adjektive in den Medien reichen von „absurd“ über „grotesk“ bis „zynisch“.

Was tun? Abschalten, sich verweigern!

Nun steht der Fahrplan auf Autopilot. Sämtliche Einwände sind Geschichte. Dass sich der ehemalige DFB-Präsident Theo Zwanziger ebenso für eine Neuausschreibung ausgesprochen hatte wie der ehemalige Präsident des englischen Fußballverbandes, David Bernstein, und der Internationale Gewerkschaftsbund: vorbei und vergessen. Dass selbst Katar-Fan und ehemaliger Fifa-Präsident Sepp Blatter die Vergabe dieser WM einen „Fehler“ nannte: Schwamm drüber.

Was tun? Abschalten, sich verweigern, sämtliche Übertragungen boykottieren. Für eingefleischte Fußballfans ist das eine Zumutung, die Willenskraft erfordert. Aber schwerer zu ertragen als die Zumutung dieser WM ist der Verzicht auf sie nicht.

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