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DER GLAUBEN: Gegen den Restzweifel Kinder lieben Warum-Fragen, Religionen beantworten sie

Ein Kind, das geboren wird, muss sich nicht nur zurechtfinden, sondern findet sich bereits vor. Als Junge oder Mädchen, mit weißer oder schwarzer Hautfarbe, umgeben von Armut oder Reichtum.

Ein Kind, das geboren wird, muss sich nicht nur zurechtfinden, sondern findet sich bereits vor. Als Junge oder Mädchen, mit weißer oder schwarzer Hautfarbe, umgeben von Armut oder Reichtum. Einen großen Teil seines Schicksals mag dieses Kind später in eigenen Händen halten, andere Prägungen wird es als Elemente seiner Identität verstehen und akzeptieren lernen müssen. Eines dieser Elemente ist sehr oft der Glaube. Er lehrt: Tue so, als seist du allein deines Glückes Schmied, aber wisse, dass du es nicht bist!

Global gesehen ist der religiöse Glaube die Norm, der Unglaube die Abweichung von der Norm. Selbst Atheisten leben ja nicht aus sich heraus, sondern in Abgrenzung. Ohne Gott kein Atheismus. Numerisch wachsen die vier größten Religionsgemeinschaften – Christentum, Islam, Buddhismus und Hinduismus – stetig an. Die Entwicklung in Berlin, Deutschland und Europa bildet eine Ausnahme. Sie verleitet zur anmaßenden Annahme, dass Glauben etwas Exotisches, Unaufgeklärtes, Unfreies sei.

Solche ressentimentbeladenen Vorurteile können das Zusammenleben mit Menschen aus jenen Kulturen erschweren, in denen Glaube selbstverständlich ist. Wer seine eigene Identität kennt, respektiert auch andere Identitäten. Tue so, als sei dein eigener Glaube richtig, aber wisse, dass andere Menschen dasselbe über ihren Glauben sagen. In diesem Sinne führt religiöse Erziehung zur Toleranz. Moral lässt sich auch im außerreligiösen Rahmen lernen. Doch dieses Erlernte hat aus sich heraus oft keine starke Bindungskraft.

Darüber hinaus allerdings besteht der Wert des Glaubens, um es paradox zu sagen, in seiner Nutzlosigkeit. Sein Wesenskern entzieht sich dem Kosten-Nutzen-Kalkül, der Zweckrationalität. Das Streben nach Glück, Wohlbefinden und Trost ist zwar ein legitimer Weg zum Glauben, aber es geht in diesem nicht auf. Wie die Liebe ist der Glaube vielleicht sinnvoll, aber in erster Linie zweckfrei.

Kinder lieben Warum-Fragen, auf die alle Religionen Antworten haben. Feste Übermittlungsnarrative, unverändert tradiert von den Ahnen bis ins Jetzt, geben ihnen Halt. Das Wechselspiel aus Prosa und Poesie, Erklärung und Mysterium, Chaos und Ordnung spiegelt ihre eigenen Urerfahrungen. Überdies stellt sie ihr Glaube in einen grenz- und kulturübergreifenden Solidaritätszusammenhang. Ein Christ in Deutschland weiß sich mit einem Christen in China verbunden, ein Muslim in Deutschland mit einem Muslim in Indonesien, ein Jude in Deutschland mit einem Juden in Israel.

Was den Kindern erst nach und nach begreiflich gemacht werden kann, sind die Paradoxien des Glaubens – sich aus freiem Willen auf einen höheren Willen zu verpflichten; die Sorgen um das eigene Ich nicht über das Sorgen für andere zu stellen; etwas um seiner selbst willen zu tun. An dieser Stelle verwandelt sich der präreflexive Vollzug von Riten in spirituelle Ernsthaftigkeit. Überdies nimmt der Gläubige vieles auf sich. Manchmal wird er verlacht, manchmal verjagt, manchmal bedroht, manchmal verfolgt. Diese Erfahrung lehrt, dass es höhere Ziele gibt als das eigene Glück, das individuelle Überleben oder den eigenen Wohlstand.

Wer soll Kinder erziehen? Vielleicht sind Vater, Mutter und/oder Gesellschaft goldrichtig. Wer Restzweifel spürt, sollte an die Macht des Glaubens glauben.Malte Lehming

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