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Annemarie Renger

© ddp

Annemarie Renger tot: "Ich bin ein Stück Sozialdemokratie"

Die erste Frau und erste Sozialdemokratin an der Spitze des Deutschen Bundestags, Annemarie Renger, ist tot. Sie starb 88-jährig in einem Pflegeheim in Remagen.

"Ich bin ein Stück Sozialdemokratie", hat Annemarie Renger einmal im Rückblick auf ihren Lebensweg gesagt, und dieser Selbsteinschätzung der einstigen Bundestagspräsidentin wird wohl auch nach ihrem Tod niemand widersprechen. Vor allem als erste Frau im zweithöchsten Staatsamt ist die gebürtige Leipzigerin in die Annalen der Bundesrepublik eingegangen. Das war 1972, als die SPD erstmals die größte Fraktion im Bundestag stellen und damit auch den Posten des Parlamentspräsidenten besetzen konnte. Als vier Jahre später die Union wieder stärkste Fraktion wurde und die Tochter eines Tischlers von der Spitze des Parlaments auf den Stuhl der Vizepräsidentin weichen musste, konnte sie zufrieden Bilanz ziehen: "Ich habe in dieser Zeit erreicht, was ich wollte: Es ist bewiesen, dass eine Frau das kann".

Aufgewachsen in einer Familie mit sozialdemokratischer Tradition, erlebte Annemarie Renger das Kriegsende 1945 bei Verwandten in der Lüneburger Heide. Ein Zeitungsartikel führte die junge Kriegswitwe in das Hannoveraner Büro von Kurt Schumacher, der von dort aus den Neuaufbau der SPD betrieb. Sie wurde Sekretärin, Reisebegleiterin, Krankenschwester und bald auch engste Vertraute des von schweren Verwundungen aus dem Ersten Weltkrieg und von jahrelanger KZ-Haft gezeichneten SPD-Vorsitzenden, dem sie bis zu seinem Tod 1952 auch den Haushalt führte. "Das, was ich bin, bin ich durch ihn", sollte sie später einmal resümieren.

Bis 1990 im Bundestag

Nach dem Tod Schumachers trat Renger selbst in die aktive Politik ein. Im September 1953 wurde sie über die SPD-Landesliste von Schleswig-Holstein erstmals in den Bundestag gewählt, dem sie bis zur ersten gesamtdeutschen Wahl 1990 angehören sollte. In den Jahren ab 1976 blieb sie bis zu ihrem Ausscheiden aus dem Parlament Vizepräsidentin des Bundestages.

1961 bis 1973 war Renger zudem Mitglied des SPD-Parteivorstandes, die letzten drei Jahre davon saß sie auch im SPD-Präsidium. Ihre Abwahl im April 1973 wurde damals von Beobachtern als Folge eines Linksdrifts in der SPD gewertet. 1979 ließ sie sich von ihrer Partei gleichwohl in die Pflicht nehmen und kandidierte in aussichtsloser Position für das Amt des Staatsoberhauptes. Erwartungsgemäß machte der Unions-Kandidat Karl Carstens das Rennen um die Nachfolge von Walter Scheel im Amt des Bundespräsidenten.

Distanz zu Willy Brandt

In den 80er Jahren wurde eine größere gewordene Distanz zwischen der Vertreterin einer traditionellen Sozialdemokratie und ihrer Partei erkennbar. So unterstützte sie 1981 mit einer Unterschriftenaktion die "Thesen zur Identität der Sozialdemokratie" des SPD-Politologen Richard Löwenthal, der entgegen dem Integrationskurs von Willy Brandt eine Abgrenzung der Partei von "Randgruppen" forderte. 1982 bemühte sie vergeblich um eine erneute Direktkandidatur für den Bundestag und hatte Mühe, auf der SPD-Landesliste Nordrhein-Westfalen abgesichert zu werden. Vier Jahre später bewarb sie sich wiederum vergebens um ein Direktmandat, bekam aber den dritten Platz der Landesliste.

Privat musste Annemarie Renger etliche Schicksalsschläge hinnehmen. Ihr erster Mann fiel im Zweiten Weltkrieg. Ihr zweiter Mann, den sie 1966 geheiratet hatte, starb 1973. Ihr Sohn aus erster Ehe verstarb 1998. Als die "große alte Dame der Sozialdemokratie" ein Jahr später, am 7. Oktober 1999, ihren 80. Geburtstag feierte, erwiesen ihr Hunderte von Gratulanten im Berliner Opernpalais ihre Reverenz. Zwar konnte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) wegen einer fiebrigen Erkältung nur ein Glückwunschschreiben schicken, doch dafür huldigte sein Amtsvorgänger Helmut Kohl (CDU) der Sozialdemokratin: "Heute bin ich gerne hier. Nehmen Sie das, so wie ich das sage, als eine Art Liebeserklärung".

Helmut Stoltenberg[ddp]

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