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Politik: Im Krankenhaus wird schon abgestimmt

Trotz kurzfristiger Änderungen bleibt der Verfassungsentwurf umstritten – Kritiker sprechen vom „schlimmsten Szenario“

Während landesweit noch Exemplare des Verfassungsentwurfs verteilt werden, haben die ersten Iraker bereits mit der Abstimmung begonnen. Die etwa 10000 Gefängnisinsassen stimmen seit Donnerstag für oder gegen das Dokument, das die Grundlage für ein friedliches Zusammenleben der ethnischen und konfessionellen Gemeinschaften des Landes legen soll.

Im Fernsehen und in den Zeitungen wird massiv dafür geworben, die Verfassung anzunehmen. Das scheint immer wahrscheinlicher. Denn die sunnitische Ablehnungsfront begann zu bröckeln, nachdem Vertreter der Minderheit am Dienstag die Zusage erhalten hatten, auch nach der Annahme der Verfassung könnten noch Änderungen vorgenommen werden – allerdings mit einer Zweidrittelmehrheit im Parlament, das von Schiiten dominiert wird. Der Verhandlungsführer der sunnitischen Islamischen Partei, Ajad al Samarraie, erklärte, seine Organisation werde die Sunniten zur Annahme der Verfassung aufrufen. Doch die restlichen sunnitischen Verbände lehnen sie weiterhin ab. Sie fürchten eine Benachteiligung, nachdem sie unter Saddam Hussein eine herausgehobene Stellung in Staat und Armee innehatten. Außerdem werfen sie dem Verfassungsentwurf vor, er schreibe den Zerfall des Landes fest. Kurden und Schiiten könnten in ihren erdölreichen Provinzen „Superregionen“ bilden und die Sunniten mittellos im Zentralirak ihrem Schicksal überlassen.

Mit Zweidrittelmehrheit der abgegebenen Stimmen in drei Provinzen können Verfassungsgegner theoretisch das Dokument kippen und die Ausarbeitung eines neuen Entwurfes erzwingen. Wird die Verfassung angenommen, können im Dezember Parlamentswahlen stattfinden.

Der Verfassungsexperte des „Carnegie Endowment for International Peace“, Nathan Brown, bezeichnet den Verfassungsentwurf als ein „Trennungsabkommen“. Damit werde das Ende des irakischen Nationalstaates eingeläutet, fürchtet der Autor einer Analyse des Verfassungsentwurfs. Darin kritisiert er, wie viele fundamentale Fragen der Entwurf offen lässt, die das Parlament mit einfacher Mehrheit beantworten soll. Dies zeuge von der Hast, mit der man ihn erarbeitet habe. Brown vermutet, dass die schiitischen Mitglieder der Verfassungskommission davon ausgehen, dass die Schiiten im Parlament weiterhin die Mehrheit und damit freie Hand bei der genaueren Ausgestaltung der Verfassung haben werden.

Die International Crisis Group, eine viel beachtete Nichtregierungsorganisation unter Leitung des ehemaligen australischen Außenministers Gareth Ewans, ist davon überzeugt, das der Verfassungsentwurf das „gewaltsame Aufbrechen“ Iraks beschleunigen wird. Ein Grund sei die Tatsache, dass Kurden und Schiiten das Konsensprinzip über Bord geworfen und den Entwurf gegen den ausdrücklichen Willen der sunnitischen Vertreter in der verfassunggebenden Versammlung angenommen hätten. Der Verfassungsentwurf enthalte keine identitätsstiftenden Elemente,sondern reduziere das Land auf ein „multikulturelles Patchwork“, kritisieren die Autoren des jüngsten Irakberichts. Die Annahme der Verfassung wird als möglicherweise „schlimmstes Szenario“ eingestuft. Um das Zerbrechen des Iraks noch zu verhindern, fordert die Organisation eine Garantie, dass höchstens vier Provinzen sich zu einer Region zusammenschließen können.

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