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Teilnehmer einer rechtsextremen Kundgebung in Dortmund (Archivbild von 2010)

© dpa/Rene Tillmann

Fast 600 Rechtsextreme per Haftbefehl gesucht: Immer mehr Neonazis tauchen unter

Die Zahl der verschwundenen Rechtsextremisten wächst rapide. Viele Gesuchte setzen sich offenbar ins Ausland ab. Die Sicherheitsbehörden wirken überfordert.

Von Frank Jansen

Die Zahlen steigen und steigen. Das Bundesinnenministerium (BMI) meldet, 596 Rechtsextremisten würden mit insgesamt 788 Haftbefehlen gesucht, Stichtag der Erhebung ist der 30. September.

Das sind 137 untergetauchte Rechte und 186 offene Haftbefehle mehr, als das Ministerium im Sommer für den Stichtag 31. März bekannt gegeben hatte. Die Angaben finden sich in den Antworten des BMI auf regelmäßige Anfragen der Linksfraktion. Für die Linken-Abgeordnete Martina Renner sind die Zahlen ein Anlass, bei Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) auf das von ihr angekündigte Engagement gegen Rechtsextremismus zu dringen.

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„Der aktuelle Höchststand von 788 Haftbefehlen, auch gegen Gewalttäter und solche, die sich offensichtlich problemlos ins europäische Ausland absetzen konnten, macht die Bedrohungslage greifbar“, sagte Renner dem Tagesspiegel. Nach den Ankündigungen der Regierung zur Gefahr durch extreme Rechte müssten sich die Behörden „an konkreten Taten, wie Auslieferung und Austausch mit den betreffenden europäischen Ländern, messen lassen“. Faeser hatte nach der Amtsübernahme betont, im Moment gehe die größte Gefahr für die innere Sicherheit „eindeutig vom Rechtsextremismus aus“.

Das Thema verschwundene Rechtsextremisten ist spätestens seit dem NSU hochgradig brisant. Die von der Polizei gesuchten Mitglieder der Terrorzelle waren 1998 abgetaucht und hielten sich fast 14 Jahre versteckt. In der Zeit verübten sie zehn Morde, drei Bombenanschläge und weitere Straftaten. Terror ist auch zumindest bei einem Teil der jetzt gesuchten 596 Rechtsextremen zu befürchten.

Das Innenministerium berichtet, einem offenen Haftbefehl „lag eine terroristische Tat zugrunde“. Welche, wird nicht angegeben. Das Ministerium bildet nur Daten ab, die das Bundeskriminalamt aus den Ländern erhält. Bei weiteren 26 Haftbefehlen geht es um politische Gewaltdelikte. Laut Ministerium sind es „überwiegend Körperverletzungsdelikte und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“. Insgesamt 125 weitere Haftbefehle sind anhängig wegen anderer rechter Delikte, darunter Volksverhetzung, Beleidigung und das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen.

Rechte auch im Alltag schneller gewalttätig

Die Bilanz zeigt allerdings auch, dass in den meisten Fällen verschwundene Rechtsextremisten unpolitische Delikte begangen haben. Das Ministerium spricht von „Allgemeinkriminalität wie Diebstahl, Betrug, Erschleichen von Leistungen, Verkehrsdelikten“ und anderen Straftaten. Bei mehr als 130 Fahndungen jenseits der politisch motivierten Kriminalität haben die gesuchten Rechtsextremen allerdings Gewalt angewandt.

Obwohl Vergleichszahlen zu untergetauchten Islamisten, Autonomen und anderen Extremisten fehlen, halten Sicherheitskreise den „Hang zur Allgemeinkriminalität“ bei Rechtsextremisten für deutlich größer. „Die rein kriminelle Energie ist bei ihnen stärker ausgeprägt“, sagt ein hochrangiger Experte. Auch im Alltag würden Rechte schneller gewalttätig als andere Extremisten.

Warum das Problem der untergetauchten Neonazis kontinuierlich wächst, ist allerdings auch für langjährig aktive Sicherheitsexperten nur schwer zu erklären. Ein möglicher Grund: Der Mangel an Ressourcen in den Behörden.Ein Experte formuliert drastisch, „bei einem untergetauchten Rechtsextremisten setzt man keine Task Force dran, um ihn zu finden. Schon gar nicht in Zeiten der Pandemie, in denen die Polizei enorm gefordert ist“. Das Problem der Verschwundenen sei „ein Dauergeschäft“.

Einige Neonazis werden schon seit Jahren gesucht

Das zeigt auch die Antwort der Bundesregierung. Der älteste Haftbefehl gegen einen Rechtsextremen ist bereits seit zehn Jahren offen, allerdings wegen eines unpolitischen Delikts. Die Zahlen steigen dann rasant in den vergangenen drei Jahren. 2018 meldete die Polizei in der Datei „Inpol-Z“, zusätzlich zu den Altfällen würden weitere 33 Rechtsextremisten gesucht. 2019 kamen 77 hinzu, 2020 dann 94 und in diesem Jahr sogar 358. Polizei und Verfassungsschutz haben bei einem Teil der Untergetauchten Erkenntnisse, sie könnten sich im Ausland aufhalten.

An der Spitze steht Polen, hier werden 13 flüchtige Rechtsextremisten vermutet. Es folgen Österreich (elf), die Schweiz (sieben), Italien (sechs) und Rumänien (fünf). Mehrere Verschwundene könnten sich allerdings auch in weit entfernte Länder abgesetzt haben. Die Polizei glaubt sogar, zwei Rechtsextreme seien in Afghanistan. Bei einem Mann aus Sachsen wussten die Behörden allerdings zumindest bis November, wo er steckt.

Christopher F., der 2016 im Erzgebirge einen Afghanen verprügelt hatte, setzte sich 2018 nach vorzeitiger Haftentlassung ab. Ein Verstoß gegen die Bewährungsauflagen, die Staatsanwaltschaft Dresden erwirkte einen Haftbefehl. Doch zu greifen war F. nicht. Die Behörden erfuhren dann auf makabere Weise den Aufenthaltsort. Der Rechtsextremist raubte im November 2018 in Kambodscha einem Mann den Motorroller und wurde festgenommen. Ein Gericht verurteilte den Deutschen zu drei Jahren Haft. Die Staatsanwaltschaft Dresden sagt nun auf Anfrage, es gebe keine Erkenntnisse, dass F. nach Deutschland zurückgekehrt ist. Er müsste hier noch fünf Monate verbüßen.

Die Polizei kann allerdings auch Treffer vermelden. In der Antwort des BMI steht, von März bis September seien 237 Haftbefehle gegen Rechtsextreme vollstreckt worden - oder hätten sich anders erledigt, „zum Beispiel durch Zahlung einer Geldstrafe“. Das zeige, dass die Polizei die Fahndungen trotz Pandemie mit Nachdruck und erfolgreich durchführe, sagt das BMI.

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