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Kolumbianer protestieren seitdem die Regierung Steuererhöhungen für öffentliche Dienstleistungen, Treibstoff, Löhne und Renten vorgeschlagen hatte.

© Ivan Valencia/dpa

Update

Soziale Explosion in Lateinamerika: In Kolumbien droht ein Bürgerkrieg

In Kolumbien kämpfen verschiedene Gruppen um Macht und Teilhabe. Jeden Tag gibt es neue Tote. Woher kommt der Hass auf allen Seiten? Eine Analyse.

Es vergeht kein Tag ohne neue Tote in Kolumbien: Erschossene, verschwundene Demonstranten, vom Mob gejagte Polizisten. Seit Ende April ist das südamerikanische Land praktisch in einem Ausnahmezustand. Es begann mit einem Aufruf zum Generalstreik gegen eine umstrittene Steuerreform, die nach Einschätzung der Kritiker die Mittelschicht und die Geringverdiener viel zu stark belastete.

Doch dann machte Kolumbiens rechtsgerichteter Präsident Ivan Duque einen schweren Fehler. Statt aus den Massenprotesten vor allem junger Kolumbianerinnen und Kolumbianer 2019 zu lernen, die die Polizei schon damals mit teilweise brutaler und tödlicher Gewalt beantwortete, schickte er wieder seine gefürchtete Polizeieinheit ESMAD in den Kampf auf die Straße.

Ein Teil der Sicherheitskräfte in Allianz mit paramilitärischen Banden in Zivil machte Jagd auf die zu Beginn überwiegend friedlichen Demonstrationen. Die ersten Toten veränderten das Klima, seitdem hat sowohl Regierung als auch das Streikkomitee der Gewerkschaften die Kontrolle über die Geschehnisse verloren, bricht der tief verankerter Hass von links und rechts aufeinander erneut aus.

Willkürliche Erschießungen

In der Unruhehochburg Cali, der drittgrößten Stadt des Landes, kommt es seitdem zu wilden Bürgerkriegsszenen. Rechtsextreme Kräfte in Zivil erschießen vor den Augen nicht einschreitender Polizisten willkürlich Demonstranten. Aufseiten der Demonstranten übernehmen mehr und mehr linksradikale Kräfte die Deutungshoheit über die Proteste machten Jagd auf Polizisten, zerstören in blinder Wut öffentliches Eigentum und versuchen das Land mit Straßenblockaden auszuhungern.

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Es ist ein Kampf der unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen um Macht und Teilhabe: Die meist weiße Oberschicht hat Angst um ihre Vormachtstellung und geht mit Gewalt gegen strukturell benachteiligte indigene oder afrokolumbianische Demonstranten vor.

Deren Reihen sind unterwandert von einigen wenigen linksradikalen Kräften, die die Wut der Benachteiligten für ihren eigenen ideologischen Kampf nutzen wollen, auch wenn sie die Sicherheit der Demonstranten damit gefährden.

UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet rief am Sonntag alle Seiten zu einem Ende der Gewalt auf. Nur in einem friedlichen Dialog ließen sich die Probleme Kolumbiens lösen.

„Die Zwischenbilanz der seit über einem Monat andauernden Sozialproteste und heftigen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Protestteilnehmern ist erschütternd: Dutzende von toten Zivilisten, tote Polizisten, Hunderte von Verletzten auf allen Seiten, Plünderungen und massive Zerstörung öffentlicher Infrastruktur im ganzen Land sowie wochenlange Straßenblockaden und Versorgungsengpässe mitten in der dritten Pandemiewelle“, sagt Stefan Reith, Leiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Bogota dem Tagesspiegel.

Viele Gründe für Ausbruch der Gewalt

Doch warum kommt es gerade jetzt zu dieser sozialen Explosion. Dafür gibt es viele Gründe. Da ist zunächst einmal die Corona-Pandemie, die die Jugendarbeitslosigkeit auf mehr als 40 Prozent ansteigen ließ. Der Wut vor allem der Jugend aus den Armenvierteln, schlecht ausgebildet ohne eine echte Perspektive auf sozialen Aufstieg und eine berufliche Karriere, bricht offen aus.

Sie liefern sich nun Straßenschlachten mit der Polizei. An den Universitäten sitzt der Frust tief, weil die rechte Regierung es nicht verstand, den 2016 ausgehandelten Friedensprozess zu einem Neustart zu nutzen und stattdessen bis heute in alten Denkmustern mit linken Feindbildern verharrt. Weil täglich im Land Umweltschützer, Sozialaktivisten, ehemalige Guerilla-Kämpfer sterben, verlangen Studenten einen politischen Kurswechsel.

Auch bei der Polizei und den Militärs sitzt der Frust tief. Denn auch sie haben fast täglich irgendwo im Land Tote zu beklagen, im Krieg gegen omnipräsente Drogenmafia und deren Lakaien in Guerilla und paramilitärische Gruppen.

Hinzu kommen humanitäre Herausforderungen, mit denen Kolumbien von der internationalen Staatengemeinschaft alleine gelassen wird. Seit gut fünf Jahren sind rund 1,8 Millionen Flüchtlinge aus Venezuela ins Land gekommen.

Zwar versucht der Staat vieles, legalisiert deren Aufenthaltsstatus, gewährt den Migranten Zugang zum Gesundheitssystem und Arbeitsmarkt, doch inmitten der schwersten Wirtschaftskrise kommt es nun in den unteren Einkommensschichten zu brutalen Verteilungskämpfen zwischen den Flüchtlingen und den Migranten, die die ohnehin angespannte soziale Situation noch mehr belasten.

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