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Ein Kellner räumt einen Tisch in einem Café ab.

© dpa/Sebastian Gollnow

Influencer hält 40-Stunden-Woche für absurd: Die Diskussion wäre es wert, geführt zu werden

Ist die 40-Stunden-Woche nicht mehr zeitgemäß? Ein junger Influencer provoziert eine neue Diskussion darüber. Das könnte jedoch eine Chance sein.

Stefanie Witte
Ein Kommentar von Stefanie Witte

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Ein 24-jähriger Influencer klagt in die Kamera, eine 40-Stunden-Woche sei doch kein Leben, er müsse Stunden reduzieren. Hunderttausende reagieren auf das Video. Julian Kamps polarisiert. Typisch Gen-Z, heißt es.

Arbeitszeit reduzieren? Mehr Zeit für sich, für Hobbys, oder einfach zum Kaffeetrinken? Diese Wahl haben die wenigsten. Dazu braucht es finanzielle Unterstützung, ein Erbe oder ein hohes Gehalt. Millionen Menschen in diesem Land malochen, bringen mit durchschnittlichem Einkommen die Familie durch, müssen funktionieren, beruflich wie privat.

Kamps hingegen wirkt regelrecht ungläubig angesichts der Ansprüche, die die Gesellschaft an ihn stellt. Offenbar ist ihm nicht bewusst, dass es sich um einen Elitendiskurs handelt.

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Was bleibt nun außer Wut oder Sympathie von einer solchen Debatte – wenn man überhaupt Zeit hatte, ihr zu folgen?

Fest steht: Vielen erscheint die Wehklage abwegig. Sie wissen: Fürs Dach überm Kopf, Essen, Krankenversicherung und all die anderen notwendigen und schönen Dinge des Alltags muss jemand das Geld verdienen, muss produktiv sein.

Aber was heißt Produktivität heute? Früher war es so: Zumeist arbeitete der eine vierzig Stunden oder mehr, während die andere die Kinder großzog und den Haushalt am Laufen hielt – vielleicht plus Nebenjob. Heute arbeiten in Familien häufig beide Elternteile und können sich dennoch keine Immobilie leisten. Das Aufstiegsversprechen von einst – es trägt meist nicht mehr.

Was zudem viele vergessen, die heute fast schon schwärmerisch von ihren langen Arbeitstagen in vergangenen Jahrzehnte erzählen: Mittlerweile ist der Arbeitsalltag in zahlreichen Jobs erheblich verdichtet. Es dominieren Digitalisierung, Multitasking und wenige Pausen bei ständiger Erreichbarkeit.

Überhaupt lässt sich der angebliche Generationenkonflikt in Sachen Leistungsbereitschaft hinterfragen. Wie repräsentativ ist ein 24-Jähriger in der Findungsphase, der gerade ein paar Wochen im neuen Job gearbeitet hat für eine Generation und ihr gesamtes Arbeitsleben? Und eine Vier-Tage-Woche wünschen sich übrigens auch viele Ältere.

Wenn man unbedingt einen Unterschied finden will, dann ist es wohl dieser: Seit der Gen Z gilt es nicht mehr automatisch als karriereschädigend und schwach, klassische Arbeitsmodelle zu hinterfragen. Gut so!

Hilfreich wäre eine offene und nüchterne Diskussion. Wie viel Produktivität braucht das Land? Welchen Rahmen braucht es dazu und profitiert, wer fleißig ist, auch wirklich davon?

Seit Jahren ist Teil des Unionsprogramms der Plan, Mitarbeiter an Kapital und Erfolg von Unternehmen zu beteiligen. Schön wäre es, wenn sich die Regierungsparteien nun endlich mit der Umsetzung beschäftigten. Stichwort Aufstiegsversprechen und Motivation. Warum schreibt sich die Koalition eine Initiative dazu nicht oben auf die Agenda? Streit mit der SPD droht da ausnahmsweise mal nicht.

Wenn’s schnell gehen soll: mehr Kinderbetreuung

Übrigens: Wer jetzt ganz schnell mehr Produktivität fordert, könnte schlicht damit anfangen, für mehr Kinderbetreuung zu sorgen, um die Arbeitsstunden der häufig in Teilzeit arbeitenden Frauen zu erhöhen.

Für den Kanzler mag Work-Life-Balance indes ein Schimpfwort sein. Als Großvater und Privatpilot wird er allerdings den Wert freier Zeit zu schätzen wissen. Selbst Friedrich Merz gönnte sich offenbar am vergangenen Wochenende eine kurze Auszeit mit Golfspiel auf Mallorca – warum auch nicht?

Umgekehrt: Wie stellt sich jemand, der den Vorruhestand mit 39 herbeiwünscht, den Rest seines Lebens vor? Warum gilt Arbeit häufig ausschließlich als Belastung, sogar als Hassthema? Sie ist mehr als Broterwerb – sie kann Sinn und Gemeinschaft stiften. Diese Diskussion wäre es wert, geführt zu werden – mindestens so viel wie die übers Stadtbild.

Sogar Influencer Julian Kamps sagte im Interview, in einer idealen Welt würde er gerne seinen Job in einer Marketingagentur auf fünfzig Prozent reduzieren und den Rest der Zeit mit Modeln und Videoproduktion füllen – also ebenfalls mit Arbeit.

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