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Geopolitische Verschiebung im Pazifik: Japan fühlt sich von den USA im Stich gelassen
Tokios Beteiligung an der von China geführten Freihandelszone ist nur ein erster Schritt. Auch Joe Biden wird Japan kaum zurückholen können. Ein Gastbeitrag.
Stand:
Wieland Wagner war lange Korrespondent in Asien und ist Autor des Buches "Japans - Abstieg in Würde. Wie ein alterndes Land um seine Zukunft ringt".
Fast war es wie immer, wenn ein japanischer Premier einen frisch gewählten US-Präsidenten anruft. In Tokio verwies man hinterher darauf, dass Premier Yoshihide Suga der erste Asiate war, der Joe Biden gratuliert habe.
Und dass er auch als erster nach Washington reisen wolle, voraussichtlich im Februar, wie es sich gehört für Amerikas engsten Verbündeten. Und zwar noch vor dem Präsidenten von Südkorea, dem ungeliebten Nachbarland.
Soweit war alles Routine. Aufhorchen ließ dann indes, dass Biden seinem Anrufer versicherte, dass die USA im Ernstfall ihrer militärischen Beistandspflicht laut Artikel 5 des bilateralen Bündnisvertrages nachkommen würden.
Konkret bezog sich Bidens Zusage auf die Senkaku-Inseln (chinesisch: Diaoyu). Diese unbewohnten Felsen im Ostchinesischen Meer werden auch von China beansprucht; fast täglich lässt die aufstrebende Supermacht in den angrenzenden Gewässern die eigene Küstenwache patrouillieren. Suga ist darüber offenbar so besorgt, dass er auf der Erneuerung der amerikanischen Schutzzusage bestand.
In Tokio zweifeln viele an der Schutzmacht Amerika
Denn in Tokio zweifeln viele, dass amerikanische Soldaten im Ernstfall ihr Blut für unbewohnte japanische Eilande vergießen würden. Wie das Inselland denn überhaupt immer weniger vertraut auf die pazifische Schutzmacht, die unter US-Präsident Donald Trump in erster Linie auf eigene Interessen gepocht hat und dieser Tage durch die Krise der amerikanischen Demokratie wie gelähmt scheint.
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Japan fühlt sich im Stich gelassen von Washington, auch wenn es bisher jede Wende der US-Politik geduldig akzeptiert hat. Erst musste die drittgrößte Volkswirtschaft ertragen, wie Trump den geplanten Transpazifischen Freihandelsvertrag (TPP) aufkündigte, mit dem China ausgegrenzt werden sollte. Als nächstes zettelte Trump einen Handelskrieg mit China an, der besonders auch Japan in Mitleidenschaft zieht.
China ist Japans größter Handelspartner, rund 14 000 japanische Unternehmen treiben auf dem benachbarten Riesenmarkt ihre Geschäfte. Doch im Zuge des von Trump ausgerufenen neuen Kalten Krieges drängen die USA auch Japan, sich wirtschaftlich von der Volksrepublik zu entkoppeln. Seit vergangenem Sonntag zeigt sich allerdings, dass im Asien-Pazifik-Raum eine ganz andere Entkoppelung begonnen hat, als die von Washington gewünschte: Zusammen mit 14 anderen asiatischen Staaten hat sich Japan in der von China geführten neuen Freihandelszone, der Regionalen umfassenden Wirtschaftspartnerschaft (RCEP), zusammengeschlossen.
Japans Verhalten zeigt die Erosion der US-Vorherrschaft in der Region
Darunter befinden sich auch die US-Verbündeten Australien und
Südkorea. Das Beispiel des bislang treuen Japan fällt dabei besonders
krass auf. Denn es beweist, wie die amerikanische Vorherrschaft in
Asien langsam zu erodieren droht. Japan gleicht dem Kanarienvogel in
der Kohlengrube, der als erster anzeigt, wenn die Luft gefährlich dünn
wird.
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Die japanische Absetzbewegung betrifft zwar vorerst nur die
Wirtschaft. Militärisch hat das alternde Japan dagegen keine
Alternative, als auf den atomaren Schutzschirm seiner einstigen
Besatzungsmacht zu vertrauen.
Aber deutlich wird: Die Geschäftsgrundlage für das US-japanische Bündnis bröckelt, weil die USA den multilateralen Handel zunehmend in Frage stellen. Japan fürchtet, zerrieben zu werden im Konflikt zwischen Washington und
Peking. Anders als Deutschland hat es keine EU und keine Nato. Nervös schnappt das driftende Land daher nach jedem Freihandelsvertrag, der ihm zusätzliche Sicherheit bietet: 2016 mit den zehn pazifischen TPP-Staaten, 2017 mit der EU, kürzlich mit Großbritannien für die Zeit nach dem Brexit und nun eben mit Chinas RCEP.
Japan braucht ein starkes Amerika
Wie eng und wie dauerhaft Japan sich politisch weiter den USA unterwirft, hängt von der künftigen Biden-Regierung ab. Zwar reagierte auch Tokio zunächst erleichtert auf den Sieg des Demokraten. “Ich habe ihm gesagt, dass wir mit den USA kooperieren möchten, um einen freien und offenen Indo-Pazifikraum zu schaffen,” berichtete Premier Suga nach seinem Telefonat mit Biden. Die Formel vom freien und offenen Indo-Pazifikraum benutzen japanische Politiker gerne, wenn sie eigentlich ihre Furcht vor China ausdrücken.
Doch um das Hegemonialstreben des Rivalen einzudämmen, braucht Japan ein starkes Amerika. Nur: Von Biden kann Japan keine Rückkehr zu den Zeiten vor Trump erwarten. Einen Beitritt zu TPP, dem von Trump abgesagten Freihandelsabkommen, dürfte sich Biden innenpolitisch kaum leisten können.
Sie nennen ihn "Yabaiden" - eine MIschung aus Biden und dem japanischen Wort für "riskant"
In der japanischen Regierungspartei, unter den konservativen
Liberaldemokraten, argwöhnen einige gar, dass Biden sich mit Chinas
Staats- und Parteichef Xi Jinping arrangieren könnte, auf Kosten
Japans. Sie nennen den künftigen US-Präsidenten “Yabaiden” - eine
Wortschöpfung aus seinem Familiennamen und dem japanischen Wort
“yabai”. Das heißt auf Deutsch: riskant.
Für China ist es ein Coup, dass nun ausgerechnet Japan beginnt, sich wegzutasten von den schwächelnden USA. Japan war das erste asiatische Land, das die Vereinigten Staaten 1853 im Zuge ihrer Westexpansion zur
Öffnung zwangen. Nach Japans Niederlage im Zweiten Weltkrieg 1945, waren es dann die Amerikaner, die das Kaiserreich besetzten und zur Demokratie erzogen.
Japan orientiert sich immer an der erfolgreichsten Großmacht
Doch diese knapp 170 Jahre des amerikanischen
Einflusses wirken wie eine Episode, wenn man sie mit den
chinesisch-japanischen Beziehungen vergleicht. Bereits im 7. Jahrhundert begann Japan, sein Staatswesen nach chinesischem Vorbild
zu zentralisieren. Vom Reich der Mitte übernahm es die chinesischen
Schriftzeichen, den Buddhismus, den Konfuzianismus und vieles mehr.
Japans Herrscher folgten einem Grundsatz, der heute noch gilt: Sie
orientieren sich an der Großmacht, die ihnen aktuell am mächtigsten
und am erfolgreichsten erscheint.
Heute ist Japan mit China so eng verflochten wie lange nicht
wirtschaftlich und kulturell. Chinesische Firmen kaufen die Reste der
japanischen Elektronikindustrie auf, chinesische Milliardäre erwerben
auf Japans nördlicher Insel Hokkaido riesige Ländereien und
chinesische Massentouristen sind oft die größte Hoffnung für Nippons
Hotelgewerbe.
An all dem ändert auch der ewige Streit um die Senkaku-Inseln wenig.
Die Regierung in Tokio vermeidet alles, was die kommunistischen Bosse
in Peking provozieren könnte: Kritik an der Einverleibung Hongkongs
oder an der Unterdrückung der Uiguren hört man kaum aus Tokio. Auch in
der neuen gemeinsamen Freihandelszone dürfte Japan sich an die
geopolitische Machtverschiebung anpassen. Die Zeit arbeitet für das
Reich der Mitte.
Wieland Wagner
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