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Politik: Kein leichter Stand

Sie Juristin, er Architekt, beide: Griechen und krisengebeutelt. 2011 wandern sie aus, nach Berlin. Jetzt betreiben sie in einer Markthalle einen kleinen Bioladen – und trauen sich seit langem mal wieder, von Zukunft zu träumen.

Es ist ein Wochentag gegen Mittag, und an den quadratischen hellen Holztischen sitzen ein paar Angestellte aus der Umgebung, die Pause machen. Sie haben bestellt und unterhalten sich. Ganz entspannt wirken sie. Ein gutes Zeichen.

Tassos Kampisios, hinter dem Tresen stehend, hat die Gäste seines kleinen Tavernenmarkstands immer mit im Blick. Als aus der Küche ein Zeichen kommt – das Lamm ist fertig! –, serviert er es selbst. Die Gäste waren schon mal da, sie hätten ihn vor ein paar Wochen für sich entdeckt, erzählen sie ihm, fragen, wo er herkomme, ein paar Worte mehr werden gewechselt, am Nachbarstand wirbt ein Verkäufer laut für frisches Obst, überhaupt ist Geschäftigkeit in der Luft. „Ganz wie in Griechenland ist es hier“, sagt die Frau am Tisch. Darüber kann Kampisios erfreut lächeln, aber in Wirklichkeit stimmt das natürlich nicht. In Wirklichkeit ist erst die Tatsache, dass es „hier“ ganz und gar nicht ist wie in Griechenland, der Grund dafür, dass sie und die anderen bei Kampisios essen können.

„Anemone“ heißt der Stand, den er mit seiner Freundin Eleni Boskou seit gut einem Jahr in der Arminius-Markthalle von Berlin-Moabit betreibt. Der Stand kann als Hinweis darauf gelten, dass auch Krisen zu etwas führen, und sei es zu vollkommen veränderten Lebenswegen. Denn dass sie eines Tages in Deutschland Lamm servieren würden, hatten sich weder Tassos Kampisios noch Eleni Boskou je vorgestellt.

Kampisios ist Architekt, Eleni Boskou ist Juristin, Rechtsanwältin. Beide haben sie nach Abschluss ihres Studiums lange in ihren Berufen gearbeitet. Und beide hatten sie gedacht, das würde so auch noch ewig weitergehen. Aber dann kam die Krise nach Griechenland.

„2008 merkte ich, dass irgendetwas nicht stimmte“, sagt Kampisios, der heute 36 Jahre alt ist. Dem freischaffenden Architekten fiel es immer schwerer, Aufträge zu bekommen. Architektur bedeutet Bauen, und Bauen bedeutet Zukunft. Doch an die glaubte in Griechenland bald keiner mehr. Überall wurden Stellen gestrichen, wurden Menschen arbeitslos und damit schnell auch mittellos. Alles wurde heruntergeschraubt, überall wurde gespart. Für Kampisios bedeutete das, dass er auch anderes als Architekturjobs annehmen musste. Er arbeitete als Grafiker und Computerspieldesigner, dann als Animateur in einer Hotelkette. Immer ließ sich irgendwo noch irgendein Job auftreiben. Zwei Jahre lang ging das so, währte Kampisios’ Kampf gegen die Verhältnisse, dann blieben die Auftraggeber ganz aus. Er sagt: „Dann gab es einfach gar nichts mehr.“ Und er fragte sich, was er sonst machen könnte, außer dem, zu dem er ausgebildet war oder worin er wenigstens Erfahrung hatte.

Was denn bloß sonst noch?

Kampisios gehörte zur griechischen Mittelschicht, jener Schicht, die dachte, dass sie durch gute Ausbildung und profunde Arbeitserfahrung von einem „ganz unten“ ausreichend Abstand geschaffen hätte. Jener Schicht, die sich auch in Deutschland Sorgen darum macht, was aus ihr im Krisenfall werden soll. Die sich vor Verarmung und Perspektivlosigkeit fürchtet. Und der Kampisios heute nur sagen kann: „Man muss flexibel sein.“

Er könnte auch sagen: Man darf den Mut nicht verlieren.

Alles so Phrasen, die wie schnell dahingesagt klingen, aber am Ende womöglich eine Überlebensgarantie sind.

Nachdem seine Überlegungen, was er in Griechenland noch machen könnte, zu nichts geführt hatten, begann Tassos Kampisios, über die Landesgrenzen hinauszudenken. Auch wenn ihn der Gedanke, Freunde, Familie und vor allem: das bekannte Leben zurückzulassen, erschreckte und schmerzte.

Das war Ende 2011, die Lage war schon schlimm, es zeichnete sich ab, dass sie schlimmer werden würde, und dem wollte Tassos Kampisios auf keinen Fall tatenlos entgegenwarten. Er sprach mit seiner Schwester, die schon seit längerer Zeit in Berlin lebt, dann fing er langsam an, zu packen. Zu genau der Zeit lernte er Eleni Boskou kennen.

Die Juristin aus Thessaloniki hatte nach ihrem Abschluss viele Jahre als Rechtsanwältin gearbeitet, war gut situiert und träumte von einer eigenen Kanzlei. „Bevor sich die Krise in Griechenland bemerkbar machte, hatte ich ein sehr schönes Leben“, sagt sie. „Nichts Aufregendes, aber gut.“ Sie hatte eine Wohnung für sich allein, konnte sich ab und zu etwas leisten. Doch es war nicht die materielle Sicherheit, die ihr dann am meisten fehlte. Über die Zeit vor der Krise sagt sie: „Das Schönste war, Träume haben zu können. Sich auszumalen, was man noch schaffen oder machen könnte. Und nicht ständig darüber zu verzweifeln, wie man gerade noch den Monat herumkriegt.“

Seit die Krise im Jahr 2008 ihren Anfang nahm, ist die griechische Wirtschaft um mehr als 23 Prozent geschrumpft. Die Arbeitslosigkeit liegt mittlerweile bei knapp 30 Prozent, bei den unter 24-Jährigen sogar bei 62 Prozent.

Anfang 2010 dachte Eleni Boskou das erste Mal darüber nach, aus Griechenland zu verschwinden. Da wurden bereits massenweise Stellen gestrichen, qualifizierte Leute entlassen und Gehälter gekürzt oder nicht gezahlt. „Als selbst die große Kanzlei, für die ich arbeitete, schwächelte, wurde mir klar: Es ist Zeit, zu gehen.“ Doch so einfach ist das natürlich nicht. Wer keine neuen Träume wagt, klammert sich an die alten. Und die waren alle mit Griechenland verbunden.

Eleni Boskou fing an, zu sparen. Sie gab ihre Wohnung auf, zog mit zwei Freundinnen zusammen. Das nächste, was sie aufgab, war das Shoppen, dann das Essengehen. Sie lacht, als sie das jetzt erzählt. Weil Shoppen und Essengehen natürlich etwas ist, auf das leicht verzichtet werden kann. Aber andererseits trug dieser private Konsumverzicht zum Schutz des eigenen Portemonnaies – weil von zigtausenden Griechen so und ähnlich praktiziert – weiter zur Schwächung der Wirtschaft bei. Eleni Boskou, Mitte 30, studiert und ehemals hoffnungsvoll, aß zuletzt immer öfter bei ihren Eltern, denn selbst Supermarkteinkäufe gingen ihr an die Substanz. „So sehr ich meine Eltern liebe – es war einfach nicht schön. Du fühlst dich komplett abhängig.“

Als sie dann Ende 2011 in einer Bar in Thessaloniki Tassos Kampisios kennenlernte und er von seinem Plan, nach Berlin zu gehen, erzählte, fand sie das gut.

Die beiden wurden Auswanderer oder Zuwanderer, je nachdem, von wo aus man schaut. Sie gehören zu der stark wachsenden Gruppe von Menschen, die aus den europäischen Krisenländern Richtung Deutschland ziehen. Wie stark die Gruppen wachsen, ergab der Internationale Migrationsbericht der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), der gerade in Berlin vorgestellt wurde. Demnach stieg der Zuzug aus Griechenland zwischen 2007 und 2011 um 73 Prozent. Und nach vorläufigen OECD-Zahlen setzte sich der Trend auch in 2012 fort. Die Studie ergab allerdings auch, dass die meisten Zuwanderer aus Südeuropa nur rund ein Jahr lang in Deutschland bleiben würden. Und auch für Tassos Kampisios und Elena Boskou sah es anfangs nach einem kurzen Ausflug aus: Kampisios suchte in Deutschland nach Arbeit in dem Beruf, den er am Besten konnte, den er gelernt hatte: als Architekt. Und fand auch hier nichts. Der Architektenmarkt ist schon mit einheimischen Fachkräften übervoll, da hat einer ohne Sprachkenntnisse erst recht keine Chance.

Kampisios musste auch in Deutschland vor allem flexibel sein. Und während er wieder einmal überlegte, was er stattdessen machen könnte, wurde ihm das Angebot, einen Stand in der Arminius-Markthalle zu betreiben, gemacht. „Ich habe den Tipp, dass da was frei wird, vom Mann meiner Schwester bekommen“, sagt er und lacht – weil doch nichts über Beziehungen geht, egal, wo man ist.

Flexibel sein, das ist auch im Leben von Eleni Boskou eine viel zitierte Devise. Ihr Bruder lebe mittlerweile in England, Freunde seien nach Schweden gezogen und andere nach Frankreich gegangen, erzählt sie, alle verließen das Land, denn alles sei besser, als bleiben.

Einen Monat, nachdem sie Tassos Kampisios kennengelernt hatte, ging der nach Berlin. Fünf Monate später kam sie nach.

Angst vor dem Neuanfang habe sie nicht gehabt, denn „wenn etwas nicht mehr gut geht, ist ein Neuanfang das Beste“, so sagt sie es. In der letzten Nacht vor dem Abflug sei sie glücklich gewesen – zu gehen bedeutete auch, wieder träumen zu können.

Eleni Boskou und Tassos Kampisios haben eine kleine Wohnung im Stadtteil Moabit gefunden. So können sie zu Fuß zur Arminius-Markthalle gehen, in der sich ihr Stand befindet. Olivenöl aus Kreta, griechischer Biotee und Wein sind auf der Holztheke drapiert. Die Küche befindet sich in einem weißen Haus mit blauen Fenstern hinter der Theke, das an die alten Häuser in griechischen Dörfern erinnert. Vor der Theke stehen Tische und Stühle, es werden täglich Mittagsgerichte oder Snacks angeboten. Auch einen Cateringservice bieten sie an. Mit der Geschäftsidee wollte Kampisios nicht das Rad neu erfinden, wie er sagt, sondern auf Sicherheit bauen. „Ich dachte mir, dass griechische Produkte hier ja auch bekannt und beliebt sind. Außerdem werden alle immer ernährungsbewusster. Griechische Bioprodukte – das passt dann doch!“

Ihre Waren beziehen die beiden Jungunternehmer von Kleinanbietern, die sie persönlich kennen und bei denen sie in Griechenland selbst gekauft haben. Das ist aber nicht der einzige Grund. „Indem wir von den Kleinanbietern bestellen, unterstützen wir sie in ihrer Existenz“, sagt Eleni Boskou. Beide Seiten würden gewinnen. Dieses Konzept wollen sie noch weiter ausbauen und dadurch weiteren Kleinunternehmern helfen. Die Klein- und Mittelständler – und so auch jene Betriebe, von denen das Paar jetzt importiert – waren seit den 80er Jahren der Stabilisator der griechischen Wirtschaft. Griechenland hatte nie eine erfolgreiche Großindustrie. Es waren die kleinen und mittleren Betriebe, die die Wirtschaft im Land zwar nicht großartig, aber gleichbleibend am Laufen hielten. Sie brechen durch die wirtschaftlichen Probleme weg und reißen das Land immer weiter in den ökonomischen Teufelskreis: Sparpaket – keine Kaufkraft – Konkurs weiterer Geschäfte – weniger Wachstum, mehr Schulden – nächstes Sparpaket und sofort.

Die Bürokratie rund um den Standbetrieb hielt sich in Berlin wider Kampisios’ Erwartungen in Grenzen. Und den in Griechenland üblichen Briefumschlag mit Geld, den Fakelaki, habe er auch nirgends rüberschieben müssen. Kampisios, am Tresen im also wohlgeordneten Berlin lehnend, regt sich sofort auf, als er an die Korruption in Griechenland denkt. Der Staat wisse das alles, aber er unternehme nichts. Man könnte natürlich auch denken, der Staat sei selbst ja auch nicht besser, so oder ähnlich hat schließlich die Griechenlandkrise erst angefangen. Kampisios ist jedenfalls bei aller Liebe zum Land zutiefst enttäuscht vom Staat Griechenland, und fast immer, wenn er sich radebrechend – sein Deutsch ist trotz Unterrichts bis heute schlecht – mit seinen Gästen unterhält, geht es um die Krise.

Kampisios hat seine Meinung dazu, viel Nettes für die Politik ist nicht dabei: Die neueste Regierungskrise, die am Freitag wegen des Streits um die Schließung des Staatssenders ERT eskalierte, woraufhin die Drei-Parteien-Koalition platzte, überrascht ihn nicht. Immer dasselbe Spiel, sagt er – und meint das Spiel um Macht. Um die gehe es, nicht um das Wohl von Land und Leuten. „Das ändert sich doch nie.“ Und die Sparauflagen der EU-Troika, die in Athen gerade wieder Druck macht, um bis Anfang Juli ihre Auswertung fertigzuhaben, würden den Mittelstand weiter in die Armut treiben. Das Land falle auseinander. Er sagt: „Griechenland ist für mich zu einem Ort geworden, an dem man seinen Urlaub, nicht aber sein Leben verbringt.“ Das verbringe er jetzt erst einmal in Berlin.

Tassos Kampisios und Eleni Boskou sind mittlerweile so weit, dass sie ihren Lebensunterhalt mit den Einnahmen des Standes bestreiten können. „Wir hatten eine Chance“, sagt Tassos Kampisios. „Wir haben die mit beiden Händen ergriffen und dann so lange weitergemacht, bis wir wieder Boden unter den Füßen hatten.“ Und Eleni Boskou sagt, dass sie ihr juristisches Wissen gut auf ihren Betrieb anwenden könne. Außerdem hat sie an der Freien Universität Berlin den englischsprachigen Studiengang Businessrecht belegt und lernt Deutsch.

Die Zukunft steht wieder offen.

Theodora Mavropoulos

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