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Politik: Kern der Spaltung

Von Albrecht Meier

Ausgerechnet Frankreich hat die EUVerfassung abgelehnt – das ist ein schwerer Schlag für das europäische Einigungswerk. Während die Verfassungsgegner am Sonntagabend triumphierend durch Paris zogen, hat in der EU eine Phase der Ungewissheit begonnen. Der Optimist hofft, dass das französische „Non“ in Europa zu einer neuen Diskussion darüber führt, was die Bürger eigentlich von ihrer EU erwarten und was nicht. Der Pessimist ahnt, dass auf das deutsch-französische Führungsduo schwere Zeiten zukommen.

Beim letzten Mal, als die Franzosen 1992 über den Maastricht-Vertrag abstimmten, kam eine knappe Mehrheit für die Währungsunion zu Stande. Die Entscheidung fiel noch in eine wirtschaftliche Schönwetter-Zeit. 13 Jahre später haben sich die Franzosen kein zweites Mal zu einem „Ja“ zu Europa durchringen können. Die Gründe sind diffus – die einen trauern über den Verlust der alten, „kleinen“ EU, die anderen misstrauen Brüssel und den detaillierten Regelungen der EU-Verfassung, wieder andere fürchten den Verlust französischer Souveränität.

Zwar war Frankreich auch diesmal, ähnlich wie 1992, angesichts der Europa-Frage gespalten. Doch die hohe Wahlbeteiligung und das verhältnismäßig klare „Non“ lassen für Deutungen wenig Raum – die Folgen in Frankreich werden nicht lange auf sich warten lassen. Präsident Jacques Chirac wird seinen unpopulären Premierminister Jean-Pierre Raffarin auswechseln. Auch für Chirac selbst, der seine Landsleute eindringlich zur Zustimmung aufgerufen hatte, dürfte das Ergebnis Konsequenzen haben. Seine Ambitionen, in zwei Jahren noch einmal für das Amt des Staatschefs anzutreten, wird er wohl endgültig begraben müssen. Und auch für den Rest seiner Amtszeit dürfte seine Autorität Schaden genommen haben.

Die Schockwellen, die von diesem „Non“ ausgehen, reichen aber weit über Frankreich hinaus. Zunächst einmal nach Deutschland. Dort lautet die Frage, ob Berlin und Paris die gewohnte Führungsrolle in der EU fortsetzen können. Ob EU-Finanzen oder Türkei-Gespräche – stets hatten Chirac und Bundeskanzler Gerhard Schröder mit Blick auf die gesamte EU nach einer gemeinsamen Linie gesucht. Es wird in den kommenden Monaten in Berlin und Paris schon großer Fantasie bedürfen, um den deutsch-französischen Motor wieder in Gang zu bringen. Die Tatsache, dass sich Deutschland derzeit auf innenpolitischer Kurssuche befindet, macht die Sache nicht leichter.

Die zweite Frage gilt angesichts des Wahl-Desasters in Frankreich der EU-Verfassung. Hat es überhaupt noch einen Sinn, die Ratifizierung in den übrigen EU-Staaten fortzusetzen, nachdem das Vertragswerk in der Heimat von Europäern wie Jacques Delors und Valéry Giscard d’Estaing gescheitert ist? Natürlich ist es erst einmal politisch klug, die nächsten Referenden abzuhalten, als wäre nichts gewesen. Ein Abbruch des Ratifizierungsprozesses wäre auch nicht fair gegenüber den neun Staaten, die das Papier bereits gebilligt haben, darunter Deutschland. Aber es wäre naiv zu glauben, dass das „Nein“ der Franzosen ohne Wirkung bleibt für die übrigen Europäer, die bis Ende 2006 noch zu Referenden aufgerufen sind. Es wäre fast ein Wunder, wenn die Franzosen in Europa am Ende als isolierte Nein-Sager dastünden.

Unter diesen Vorzeichen ist das „Non“ auch alles andere als ein kleiner europäischer Betriebsunfall. Mit dem Vertrag von Nizza, also der bestehenden Entscheidungs-Grundlage für die 25 EU-Staaten, ist die Europäische Union jedenfalls für die Zukunftsaufgaben nicht gerüstet – beispielsweise in der Asyl-, Einwanderungs- und Außenpolitik.

Dabei deutet das Nein der Franzosen auf eine EU-weite Malaise hin, die nicht auf unser Nachbarland beschränkt ist: Die Politik hat Schwierigkeiten, den Bürgern die europäischen Abläufe anschaulich zu erklären. Zwischen Nachkriegs-Pathos und alarmistischen Zukunfts-Ängsten – wenn die Politik einen nüchternen Weg fände, sich auf Europa einzulassen, wäre nach dem Schock in Frankreich zumindest etwas erreicht.

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