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Welcher Zungenschlag lauert hinter diesen Lippen

© Illustration: Martha von Maydell, mvmpapercuts.com

Woke is broke?: Kleines oder großes B, das ist hier die Frage

Was ist „sensible Sprache“, und wie sollen Übersetzerinnen und Übersetzer auf sie reagieren? Eine kleine Wortkunde in Zeiten hitziger Debatten.

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Pieke Biermann lebt als Schriftstellerin („Berlin-Quartett“) und Übersetzerin aus dem Englischen und Italienischen in Berlin. Für ihre Übertragung von Fran Ross’ Roman „Oreo“ erhielt sie 2020 den Preis der Leipziger Buchmesse. Eine erweiterte Fassung des nachfolgenden Essays erscheint in der Reihe „Berührungsängste“ der TOLEDO TALKS. Das vom Deutschen Übersetzerfonds kuratierte Programm fragt danach, welche Themen Übersetzer und Übersetzerinnen heute bewegen.

Neuerdings haben manche Verlage anscheinend zu viel Geld. Leider nicht für anständige Übersetzungshonorare, sondern für so genannte sensitive readers, die dafür sorgen sollen, dass sich niemand verletzt fühlt.

Die erwünschte „sensible Sprache“ taucht dabei seltsamerweise stets im Singular auf, dabei geht es um so komplexe Themen wie Postcolonialism oder Diversity, Identity, Wokeism oder Gendering. Sie haben nicht zufällig englische Namen: Sie kommen aus den USA, und mit ihnen die entsprechenden politischen, sozialen, kulturellen Bedingungen und Bewegungen.

Prima! Kultur-Transfer ist erstmal eine Bereicherung. Man muss nicht jedes Rad selbst erfinden, wenn es anderswo längst rollt. Außerdem kann man sich meistens auf die Dynamik der Geschichte verlassen: Umbrüche gehen immer erstmal einher mit Pro- und-Kontra-Gezeter, Übertreibungen, neuen Ungerechtigkeiten, neuen Widersprüchen, auch mit Gewalt. Nicht schön, aber wohl menschlich. Und – solche Spitzen werden mit der Zeit runder und sozialverträglich-friedlicher.

Auflösung der Nachkriegsordnung

Kein Zweifel, wir leben in einer Umbruchsphase. Sie betrifft nicht „nur“ soziale Ungerechtigkeit, sondern unsere gesamte, zusehends digitalisierte Kommunikation und die Klimakrise des gesamten Planeten. Von der Auflösung der politischen Nachkriegsordnung durch Putins Krieg und Viren mit Weltmachtstreben an dieser Stelle nicht zu reden.

Ich weiß nicht, ob wir schon die Spitze erreicht haben. Ich beobachte nur eine wachsende Verachtungs- und Hassbereitschaft, eine fatale Sehnsucht nach einem manichäischen Gut oder Böse, eine Lust am Opfersein und eine Parallellust an Mea-Culpa-Ritualen.

Hinter all dem stecken Ängste, zum Beispiel die Angst, sich unbeliebt zu machen und dafür bestraft zu werden. Sie trifft insbesondere Berufe, die mit Sprachsensibilität zu tun haben. Wer darin nicht untergehen will, braucht einen offenen, scharfen Blick, einen kühlen Kopf und Wissen. Ich verdanke einiges davon, auch den Titel dieses Essays, dem Schwarzen New Yorker Linguisten John McWhorter und seinen Newslettern für die „New York Times“.

Wissen also. Im Anfang war bekanntlich das Wort, nehmen wir mal woke. Stay woke ist ein Slogan aus der schwarzen Umgangssprache, dem vermeintlich unkorrekten Englisch, den sich das Mainstream White American English vor ein paar Jahren angeeignet hat. Wer ihn benutzt, will signalisieren: Ich bin progressiv, also bei den Guten; und woke klingt nicht so akademisch wie progressive oder politically correct, sondern bodenständig.

Unart selbsternannter Guter

Ein Bourdieuscher Distinktionsgewinn vom Feinsten, der dummerweise dasselbe Schicksal erlitten hat wie die erwähnten Vorläufer. Es ist leider eine Unart von selbsternannten „Guten“, Blasen zu schlagen und alle/s außerhalb ihrer Blase verächtlich zu machen.

Woke ist die Vergangenheitsform von (a)wake und fordert soziale Wachheit, Aufgewecktheit. „Aber von einer neuen Sicht auf die Dinge zu der Annahme, das sei die einzig vernünftige und moralische Sicht, ist es nur ein kleiner Schritt“, schreibt McWhorter, „und das war noch stets die Steilvorlage für Reaktionäre, die mit dem Spottkürzel p.c. für Political Correctness die ganze politische Haltung diskreditierten.“

Wir kennen den Mechanismus auch hierzulande: „Aus woke, einst beliebt unter linksgerichteten Social-Media-Experten als Aufruf, gegenüber systemischem Rassismus wach zu bleiben, wurde erst ein Kürzel heutiger linker Orthodoxie und dann eine Floskel zur Betonung des anmaßenden, obsessiven Wesens eben jener Orthodoxie.“ Aber spätestens in den Scharmützeln, ob die Demokraten eine Wahl im November 2021 wegen zu viel oder zu wenig Wokeness verloren, ging auch diese jüngste terminologische Schlacht verloren: „Woke is broke.“ Auf Trappatonesisch: Woke hat fertig.

Hierzulande gilt Wokeness gerade als endgültig letzter Schrei, samt Regelwerken, die von einigen quasi dogmatisch zum Standard erklärt werden. Warum? Ich vermute, weil wir hierzulande kaum wissen, dass und wie in den USA darüber gestritten wird, und den historischen Unterboden entweder gar nicht kennen oder nicht zur Kenntnis nehmen.

Elaborierte Menschenfreundlichkeit

Was wir hier als Wokeism oder Wokeness begreifen und für menschenfreundlich halten, ist keineswegs „näher am Menschen und seinen realen Problemen“, sondern ein „elaborierter Jargon“, der, so McWhorter, „als beinah heilig oktroyiert wird.“

Und zwar erst recht unter Deutschsprachlern, die nicht mal wagen, die englischen Begriffe in brauchbares Deutsch zu übersetzen. Wir reden von Diversity, ohne zu ahnen: Wer sie in den USA einfordert oder damit Reklame macht (etwa Firmen bei ihrer Personalpolitik), meint damit meistens bloß „nicht nur Weiße, sondern auch genügend Schwarze und Latinos“, so noch einmal McWhorter. Von echter Vielfalt, von „Anderssein“ aller Art – in Bezug auf Religionen, Physis, Geschlechter, Sexpraxis: keine Spur.

Wir plappern zumeist ahnungslos von Postcolonialism und übergehen nonchalant: US-Akademiker verstehen ihn vor allem als innenpolitischen Kampfbegriff. Bei dem Kampf allerdings geht es nicht zuletzt – und zwar zurecht! – um Reparationen für Jahrhunderte von Verschleppung, Sklaverei, Ausbeutung, Gewalt, begangen von weißen an schwarzen Amerikanern.

Nur, für Spanier, Portugiesen, Engländer, Niederländer, Franzosen hat Kolonialismus eine viel breitere Bedeutung, für Deutsche auch, und das noch einmal vertrackter und komplexer.

Toleranz für filmisches Gemetzel

Sprachregelungen von oben führen unweigerlich zu semantischer Verengung, Verbiegung, Vernachlässigung – der eigenen Sprache nämlich. Und damit der eigenen Geschichte. Ein Beispiel für letztere: Gendering. Es leitet sich ab aus der Aufspaltung von Sex und Gender zunächst im Wortschatz US-amerikanischer Universitäten, die sich erstaunlich rasant in den Mainstream übertragen hat – womöglich bloß aufgrund der extrem sexängstlichen US-Kultur, wo blutiges Gemetzel in Filmen toleriert wird, aber wehe, irgendwo blitzen gewisse Körperteile auf!

Dabei haben wir hier doch seit Äonen ein schönes Gemeinschaftswort: Geschlecht. Wir kennen Geschlechterkämpfe, Geschlechterrollen, Geschlechtskrankheiten und drücken damit auch aus, dass das biologisch und das sozial, kulturell, politisch und sogar grammatikalisch Bezeichnete zusammenhängen.

Semantische Verbiegungen also. Zum Beispiel Race. Warum eigentlich propagiert im englischen Sprachraum dafür niemand eine Aufspaltung, gar Abschaffung? Hier geht es um einen der drei Zentralbegriffe, mit denen seit Jahrhunderten die realen Machtverhältnisse kritisch auseinandergenommen werden. Sex und Class sind die beiden anderen.

Die Verwendung des Wortes Race ist derzeit der Lackmustest, mit dem der Säuregehalt der Gesellschaft sichtbar wird. Race, definiert die Schwarze New Yorker Soziologin Crystal M. Fleming, „ist ein Konzept, mit dem sich eine politisch und kulturell bedeutsame Identität bezeichnen lässt.“

Was wäre kritische Rassensoziologie?

Sie lehrt Critical Race Sociology. Undenkbar, dass sich hierzulande jemand als „kritische Rassensoziologin“ tituliert; mal abgesehen davon, dass „Rasse“ einen Hallraum hat, in dem für deutsch sozialisierte Ohren immer industrialisierter Massenmord mitdröhnt.

Darf akademisches Denken ignorieren, dass der Begriff Rasse auf Menschen bezogen schlicht falsch ist? „Es gibt hierfür keine biologische Begründung, und tatsächlich hat es diese auch nie gegeben. Das Konzept der Rasse ist das Ergebnis von Rassismus und nicht dessen Voraussetzung.“ (Jenaer Erklärung von 2019)

Bei etwas mehr Kultur-Transfer in die andere Richtung könnte diese Erkenntnis vielleicht den akademischen Antirassismus in den USA bereichern. Oder die emotionalen, psychischen Widerstandskräfte gegen das Beleidigungspotenzial gewisser zu verbietender „böser“ Wörter stärken.

Bei den Wörtern, mit denen im amerikanischen Englisch Schwarze Menschen bezeichnet und vor allem beleidigt wurden, ist die Sache komplizierter: Es gibt nicht nur eines, sondern verschiedene, sie haben ihre historischen Kontexte und unterschiedliche Bosheitsgrade, also Verletzungspotenziale, die aber wiederum ihrerseits individuell unterschiedlich wahrgenommen werden. Und über alle wird seit jeher gestritten.

Aufstieg der Black-Power-Bewegung

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war Negro die allgemeine Bezeichnung für Menschen afrikanischer Herkunft, wurde auch von ihnen selbst benutzt und während der ersten Blüte schwarzer Kultur in den USA, der Harlem Renaissance nach dem Ersten Weltkrieg, tatsächlich positiv besetzt in Gestalt des New Negro, den es sozial, politisch, kulturell zu schaffen galt.

Das Wort black – zuvor als so beleidigend empfunden, wie es gemeint war – kam erst Mitte der 1960er mit der Black Power-Bewegung zu Ehren, gefeiert in Slogans wie: „I’m Black And I’m Proud“ oder „Black Is Beautiful“, popularisiert etwa durch Motown Records. Jetzt galt Negro als rückständig bis rassistisch.

Der erste Schwarze Präsidentschaftskandidat Jesse Jackson propagierte 1988 den Begriff African-American: Black reduziere die Komplexität einer race auf die Hautfarbe, und das sei zu eng. Der Vorteil der neuen Bezeichnung war, dass sie automatisch mit großen Initialen geschrieben wird. Der Nachteil: Auch in African hallte das Trauma der Verschleppung und Versklavung nach.

In den aktuellen Gefechten um das kleine oder das große B – inzwischen bekennen sich auch meinungsmachende „weiße“ Medien wie die New York Times zur Großschreibung – lebt ein bisschen von der Debatte um Afro- oder African-American wieder auf: Die Anrede mit einem groß geschriebenen Wort bedeutet eine gefühlte Aufwertung, Black wird als respektvoller wahrgenommen denn black. Das ist logisch in einer Sprache, die prinzipiell alles klein schreibt, auch Nomina, und nur geografische Begriffe, Institutionen, Eigennamen oder besonders Betontes durch große Initiale markiert.

Falsche Freunde

Müsste man beim Übersetzen englischer Texte nicht erstmal wissen, wie, wann und warum welche Wörter als „gut“ und welche als „böse“ angesehen wurden? Zum Beispiel, um nicht auf falsche Freunde reinzufallen und aus einem US-amerikanischen Negro einen „Neger“ zu machen? Um nicht tone-deaf dafür zu sein, dass dieses Wort immer rassistisch getönt war? Und müsste man nicht auch bedenken, dass Nomina auf Deutsch immer groß geschrieben werden, Adjektive dagegen klein?

Welcher Respektgewinn ist zu machen, wenn wir von Schwarzen schreiben, die Schwarze Musik machen, nicht schwarze? Wäre der wirkmächtig genug, um ein eingespieltes Grammatiksystem aus den Angeln zu heben? Und damit Schreib-, Lese- und Verständnisgewohnheiten?

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Zur Zeit wird das große S beim Adjektiv schwarz auch hierzulande als entscheidendes Kriterium für „sensible Sprache“ gesetzt. Als ginge es beim Übersetzen nicht dauernd um Sensibilität gerade auch dafür, wie man mit Sprache Politik macht. Übersetzen heißt, immer wieder begründete Entscheidungen zu treffen. Aber genau das erweitert den Horizont, schärft den Blick und kühlt den Kopf.

Es gilt die alte Weisheit: „Wer nur etwas von Kunst versteht, versteht auch von Kunst nichts!“ Auf Schreiben und Übersetzen angewandt: Wer nur auf „sensible Sprache“ achtet, achtet auch die nicht, sondern verengt den Blick hinein in einen Tunnel, als dessen Licht am Ende eine Schimäre erscheint, die weder Sensibilität noch Sprache wirklich ernst nimmt.

Pieke Biermann

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