
© Kay Nietfeld/dpa
Mon Berlin: Lernen im großen Fluss des Lebens
Die Schüler engagieren sich für die Demokratie und mahnen zum Handeln. Eine Kolumne.
Stand:
Ach, die erste Demo … schmeckt fast so wie der erste Kuss. Erinnern Sie sich an Ihre? Daran, dass Ihnen das Herz bis zum Hals schlug? Sie haben all Ihren Mut zusammengenommen, haben sich in den langen Zug eingereiht und haben sich durch die Straßen Ihrer Stadt tragen lassen. Sie haben Slogans skandiert, erst vorsichtig, dann aus vollem Hals, haben Ihre Wut hinausgeschrien, hinausgerufen, was Sie wollten, nämlich die Welt verändern. Sie waren noch nicht erwachsen, durften noch nicht wählen gehen und demonstrierten mit all diesen Leuten, die das gleiche dachten wie Sie. Sie haben sich ganz schön mächtig gefühlt an diesem Tag, und vor allem: mündig.
An einem Freitagmorgen vor ein paar Wochen musste ich in Köln umsteigen und wartete auf meinen ICE nach Berlin. Eine riesige Menschenmenge hatte sich auf dem Platz vor dem Hauptbahnhof am Fuße des majestätischen Doms versammelt. Trotz Windböen und Regen demonstrierten tausende Schüler für den Klimaschutz. Sie hielten selbstgemalte Transparente mit fantasievollen Sprüchen hoch. Und ja, sie schwänzten die Schule. „Nein, wir streiken!“, korrigierte ein in seinen Anorak eingemummelter Achtklässler.
Das politische Engagement der Jugend ist doch eine Freude,...
Tief bewegt beobachtete ich diesen bunten Zug der Demonstranten, denen das schlechte Wetter nichts auszumachen schien. Es ging so viel Energie aus von diesen Jugendlichen! Sie wollen die statische Welt der Erwachsenen und der Politik zum Schwanken bringen. Und wie haben wir unsere Jugendlichen kritisiert: völlig apolitisch, den Blick den ganzen Tag lang starr auf den Bildschirm ihres Smartphones gerichtet, an nichts interessiert, von ihrem virtuellen Universum völlig absorbiert. Wir hingegen in Gorleben damals, das war etwas anderes! Und nun zeigen sie uns jeden Freitag, dass wir uns geirrt haben.
Das ist doch ein Grund zur Freude, oder? Stattdessen konzentriert sich die Debatte auf die Schulpflicht. Darf man einmal in der Woche die Schule schwänzen, ohne für den Rechtsbruch bestraft zu werden? Ich dachte, ich höre nicht recht: Emmanuel Macron, Annegret Kramp-Karrenbauer und viele andere wollen die Bewegung unterbinden, die Schüler zwingen, in ihre Klassenzimmer zurückzukehren und mit den Lehrern geordnet zu diskutieren. Ich frage mich, ob Macron oder AKK jemals auf einer Demo waren.
...stattdessen wirft die Politik ihnen Schuleschwänzen vor
Angela Merkel hingegen hat Recht, wenn sie die Jugendlichen lobt: „Es ist richtig, dass ihr uns Dampf macht!“ Den Vogel abgeschossen hat der FPD-Politiker Wolfgang Kubicki, der die Schüler vergangenen Sonntag bei Anne Will warnte: „Die Schüler schaden sich nur selbst (…) Sie schaden ihren Möglichkeiten, gute Zensuren zu erhalten und dann am Leben entsprechend Teil zu nehmen“.
Seien wir mal ehrlich. Wo haben wir mehr gelernt: Auf der Schulbank oder im großen Fluss des Lebens? Und nehmen diese hunderttausende Schüler, die jeden Freitag auf die Straße gehen, etwa nicht „entsprechend Teil“ am Leben? Sie lernen Selbstvertrauen, zivilgesellschafltiches Engagement und üben sich in Demokratie. Vor allem erinnern sie uns daran, dass wir jetzt handeln müssen und nicht erst in zehn Jahren, wenn sie nach dem Studium viele gute Zensuren als Trophäe vorzuweisen haben. Wie kann man diesen Kindern verbieten, an einer Demonstration für die Zukunft des Planeten teilzunehmen? Es gibt nur einen Grund, sich Sorgen zu machen: wenn sie nicht auf die Straße gehen.
Aus dem Französischen übersetzt von Odile Kennel.
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