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Frankreich: Letzter Rettungsanker Chirac?

Jetzt steht die französische Regierung mit dem Rücken zur Wand. Was wie die üblichen Proteste gegen eine der vielen kleinen Sozialreformen begann, ist zur veritablen Regimekrise angeschwollen.

Paris - Angesichts der größten Massendemonstrationen seit Jahrzehnten sagt Präsident Jacques Chirac alle Termine außerhalb von Paris ab. In Medien und Opposition mehren sich Rufe nach einem Rücktritt der Regierung und Parlamentswahlen. «Lieber eine Konfrontation an den Wahlurnen als auf der Straße», meint «France Soir». Doch das müssen die Neogaullisten derzeit scheuen wie der Teufel das Weihwasser.

Retter in der Not könnte Chirac spielen: Er kann die umkämpfte Reform neu ins Parlament schicken und so den sozialen Frieden wieder herstellen. Denn auch die Gewerkschaften und Studenten wären heilfroh, wenn die wochenlangen zermürbenden Proteste endlich vorbei wären. In ungewohnter Einheit rufen auch sie Chirac zum Eingreifen auf. Doch der müde gewordene Präsident müsste einen hohen Preis zahlen: Premierminister Dominique de Villepin wäre dann kaum mehr zu halten und hätte jede Chance verspielt, seinem Mentor 2007 ins Präsidialamt zu folgen. Und Chirac würde nach dem Scheitern der EU- Verfassung auch innenpolitisch als Verlierer dem Ende seiner Amtszeit entgegengehen.

Abgeordnete fordern Verhandlungen

In den Augen der Opposition hat die Regierung jegliche Legitimität verloren. Schon bei seiner Wahl 2002 hatte Chirac nur 19,88 Prozent der Stimmen erhalten und sich im zweiten Wahlgang nur durchgesetzt, weil der Rechtsradikale Jean-Marie Le Pen gegen ihn in die Stichwahl kam. Seitdem haben die Neogaullisten Regional- und Europawahlen sowie das EU-Verfassungsreferendum verloren und es am Ende geschafft, doppelt so viele Demonstranten gegen sich auf die Straße zu bringen wie ihr Urvater General Charles de Gaulle bei den Mai-Unruhen 1968.

Kann eine Demokratie eine solche Konfrontation der Regierung mit einem so großen Teil der Bürger auf Dauer aushalten? Anders als die Öffentlichkeit scheint sich Villepin diese Frage nicht zu stellen. Während draußen Millionen auf die Straße gehen, plaudert Villepin in seinem Regierungspalast mit dem spanischen König Juan Carlos. Diese Unbeirrtheit treibt die Gewerkschaften zur Verzweiflung. Aber auch seine Parteifreunde in der UMP: Am Dienstag forderten die wegen des Volkszorns um ihre Mandate fürchtenden UMP-Abgeordneten erneut offene Verhandlungen mit den Gewerkschaften.

Doch Villepin kalkuliert anders. Wenn er jetzt hart bleibt und sich durchsetzt wie vor 20 Jahren die britische «Eiserne Lady» Maggie Thatcher gegen die Bergleutegewerkschaft, dann hat er nach Lesart seiner Anhänger den Fahrschein für das Präsidentenamt in der Tasche. Denn die bürgerlichen Wähler haben von der Reformblockade durch die stets streikbereiten Gewerkschaften mehr als genug. Villepin könnte ihr Held werden. Der forsche Adelige drängt daher Chirac, das umstrittene Reformgesetz schnell zu verkünden und die Proteste ins Leere laufen zu lassen. Am 8. April beginnen für die Hochschulen die Osterferien. Dann werde die Protestwelle verebben.

"System ist unglaubwürdig"

Villepin möchte daher auch nicht, dass der Verfassungsrat das Gesetz kippt und damit die Blockade für eine Reform der Reform löst. Die Weisen dürften an diesem Donnerstag über das Gesetz richten. Verfassungsjuristen erwarten, dass sie es durchwinken. Danach blieben Chirac noch neun Tage, um das Gesetz zu unterzeichnen oder ans Parlament zurück zu verweisen. Villepin soll auf seine Unterschrift schon an diesem Wochenende drängen. Danach würden die Gewerkschaften schon klein beigeben und sich gesprächsbereit zeigen.

Doch wenn die Proteste weitergehen oder sich gar radikalisieren? Dann könnten 2007 die Rechtsradikalen die Ernte einfahren. «Das ganze politische System ist unglaubwürdig geworden», tönt die Nationale Front (FN). «Wir werden sogar ganze Schichten der Linkswähler einsammeln.» Innenminister Nicolas Sarkozy befürchtet das wohl auch. «Die Lage birgt alle Gefahren», erklärt er. Jetzt müsse sich Villepin bewegen. «Ein Kompromiss ist keine Schande.» Den Rechtsradikalen will Sarkozy keinen Raum lassen: «Ja, ich umwerbe die FN-Wähler.» (Von Hans-Hermann Nikolei, dpa)

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