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Der alte Kampf gegen den 218: Frauen-Autokorso in Dortmund im Jahre 1975

© Klaus Rosen/imago

Medizinerinnen gegen Abtreibungsverbot: „Die Toleranz für den Schwangerschaftsabbruch steigt“

Nach dem geplanten Aus für den § 219a fordert eine Petition auch das Ende des § 218. Ein Gespräch mit Leonie Kühn, Mitgründerin von "Doctors for Choice"

Gerade ist der § 219a auf dem Weg, abgeschafft zu werden. Jetzt machen Sie sich sogar an den § 218, den es seit 150 Jahren gibt und der ebenso lange bekämpft wurde. Ist das ein realistisches Ziel?
Dass der 219a abgeschafft werden soll, ist wichtig, aber die Debatte darum hat außerdem klar gemacht, dass wesentliche Fragen der reproduktiven Gesundheit in Deutschland nicht geklärt sind. Dass Frauen und Menschen mit Uterus bisher nicht an wesentliche Informationen zum Schwangerschaftsabbruch kamen, ist ja nur ein Teil eines Problems, das sehr viel tiefer geht. 

Was ist der springende Punkt?
Dass der Schwangerschaftsabbruch kriminalisiert wird. Das hat massive Konsequenzen. Es führt dazu, dass Abbrüche tabuisiert und stigmatisiert werden, in der Gesellschaft wie in der medizinischen Ausbildung – wer will denn etwas lehren, was im Strafgesetzbuch steht? Und auch für ungewollt Schwangere ist es zunächst schockierend, dass ihr Wunsch nach einem Abbruch kriminell sein soll.

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Sie haben gerade Ihr Medizinstudium beendet. Konnten Sie durch die Debatte um den 219a eine Veränderung auch in der medizinischen Ausbildung feststellen?
Unbedingt. In Berlin zum Beispiel gab es bisher gar keine Lehrveranstaltungen zum Schwangerschaftsabbruch, inzwischen gibt es drei Vorlesungen dazu. Wir Studierende selbst sind ja dadurch, dass die Gießener Ärztin Kristina Hänel sich seit 2017 gegen ihre Verurteilung wegen angeblicher "Werbung" für Abtreibung wehrte und an die Öffentlichkeit ging, auf das Problem aufmerksam geworden. Wir haben uns daraufhin ausgetauscht, uns als "Medical Students for Choice" organisiert und uns dann an die Fakultät gewandt.

Die offenbar auf Ihren Wunsch nach Lehre zum Schwangerschaftsabbruch einging.
Ja. Das war aber unser Engagement, nur durch Druck der Studierenden ist etwas geschehen. Seitens der Fakultät oder der Gynäkologie gab es kein großes Interesse.

Ging die Wirkung über Berlin hinaus?
Wir haben keine exakten Daten, aber die Mails und Erfahrungsberichte, die uns immer wieder erreichen, zeigen, dass sich auf jeden Fall etwas tut. Auch die Papaya-Workshops, die wir angeboten haben, …

… Sie üben die Technik eines operativen Abbruchs, der in der offiziellen Ausbildung nicht gelehrt wurde, an Papaya-Früchten…
… gibt es inzwischen an anderen Uni-Standorten.

Die Ärztin Leonie Kühn, Mitgründerin von "Doctors for Choice"
Die Ärztin Leonie Kühn, Mitgründerin von "Doctors for Choice"

© Doctors for Choice

Wie sehen Sie Ihre Chancen? Wie gesagt, der Paragraf 218 hat alle Versuche zu seiner Abschaffung in 150 Jahren überlebt. Und Sie als "Doctors for Choice" haben sich ja auch organisiert vor dem Hintergrund einer wachsenden gesellschaftlichen Tabuisierung: In den 1990er Jahren waren noch etwa die Hälfte der West- und 80 Prozent der Ostdeutschen aufgeschlossen, bis 2012 sanken die Zahlen auf ein Drittel beziehungsweise 55 Prozent.
Ich glaube dass die Gesellschaft weiter ist, als es oft den Anschein hat. Einerseits wirkt die Gruppe der Abtreibungsgegner:innen sehr viel größer als sie ist, denn sie sind sehr aktiv, haben Geld und sind gut vernetzt. Andererseits hat die gesellschaftliche Debatte zum Schwangerschaftsabbruch aufgrund der Diskussion um den § 219a in den letzten Jahren wieder stark zugenommen. In der Tat zeigten die großen Umfragen, die die Einstellungen zuletzt vor etwa zehn Jahren abbildeten, eine wachsende Skepsis Schwangerschaftsabbrüchen gegenüber. Das scheint sich aber gerade zu drehen.

Woher nehmen Sie Ihren Optimismus?
Einerseits stimmt uns zuversichtlich, was wir an Rückmeldungen bekommen. Andererseits gibt es einige jüngere, kleinere Umfragen. Zum Beispiel die European Value Study, die für mehrere europäische Länder feststellte, darunter auch Deutschland, dass die Toleranz für Abbrüche einerseits steigt und extreme Ablehnung tendenziell abnimmt. Wir setzen auch auf unser sehr breites Bündnis für die Petition: Bei uns sind beispielsweise auch Initiativen von trans Personen aktiv – Schwangerschaftsabbruch ist eben, anders als oft dargestellt, etwas, was auch Menschen angeht, die keine Frauen sind, aber dennoch schwanger werden können.

International ist der Trend doch auch gegenläufig: In den USA kommen Staaten mit liberaler Abtreibungsgesetzgebung immer stärker unter Druck. 
Insgesamt stimmt das nicht. Im katholisch geprägten Südamerika gibt es aktuell eine enorme Welle der Legalisierung, im ebenfalls traditionell katholischen Irland schaffte es ein Referendum 2018, dass das Abtreibungsverbot aus der Verfassung gestrichen wurde, und in Polen gab es 2020 massive Proteste gegen ein De-facto-Verbot. Das Europäische Parlament hat im letzten Jahr einen Bericht angenommen, der allen Mitgliedsstaaten empfiehlt, Schwangerschaftsabbrüche zu legalisieren. Wenn das für die Europäische Union mit Mehrheit beschlossen werden kann, zeigt das doch auch etwas. Wir sagen nicht, dass alle Schwangerschaftsbrüche gut finden sollen. Wie wollen aber, dass jede Schwangere, die einen Abbruch will, alle Möglichkeiten dazu zur Verfügung hat.

Ihre Petition, die seit Mitte Februar fast 75.000 Unterschriften bekam, wendet sich konkret an die Minister für Gesundheit und Justiz und die Familienministerin. Gab es schon Rückmeldung von der Ampel-Regierung?
Bisher haben wir uns noch nicht offiziell an die Regierung gewandt, weil wir noch dabei sind, Unterschriften zu sammeln. Ich erwarte da aber auch wenig. Im Koalitionsvertrag steht ja, dass eine "Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung" für die Frage eingesetzt werden soll. Ich denke, die Bundesregierung wartet ab, bis diese Kommission gebildet wurde und was dort bei den Gesprächen rauskommt. Vorher wird sich kaum jemand aus der Deckung wagen.

Zu den Forderungen Ihrer Initiative "Doctors for Choice" gehört auch mehr Sexualaufklärung, beginnend in den Grundschulen. Aufklärung in den Schulen haben wir ja nun seit vielen Jahrzehnten. Was muss sich daran aus Ihrer Sicht ändern?
Sexualkunde muss diskriminierungsfrei werden, sie soll ohne erhobenen Zeigefinger erteilt werden, nicht tabuisieren und ausdrücklich ungewollte Schwangerschaft ansprechen. Das ist ja nun einmal etwas, was für junge Leute ein großes Thema werden kann. Alle relevanten internationalen Studien zeigen: Wer Schwangerschaftsabbrüche wirklich verhindern will, braucht liberale Gesetzgebung, gute Aufklärung und den kostenlosen Zugang zu Verhütungsmitteln.

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