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Als die ersten kamen: Ukraine-Flüchtlingszentrum auf dem Gelände des ehemaligen Flughafens Berlin-Tegel

© imago/Jens Schicke

Migration: Deutschland steht vor Einwanderungsrekord

Die Flucht aus der Ukraine treibt die Zahl neuer Mitbürger:innen auf einen neuen Höchststand. Aber die Werbung um Fachkräfte lahmt, sagt die OECD. Deutschland tue sich besonders schwer.

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Das Jahr 2022 wird für die Bundesrepublik voraussichtlich das mit ihrer höchsten je gemessenen Migration, sicher aber das mit den höchsten Zuwanderungszahlen seit der Wiedervereinigung 1990. „Wir werden die Zahlen von 2015 übertreffen“, sagte Thomas Liebig, leitender Ökonom der Abteilung Internationale Migration der OECD, der Vereinigung der weltgrößten Industriestaaten, während der Vorstellung des jährlichen Migrationsausblicks der Organisation.

Mehr Menschen denn je - aber ohne spektakuläre Bilder

2015 war Europa Ziel für Hunderttausende Geflüchtete aus Syrien, aber auch aus dem Irak und anderen Kriegsländern des Nahen Ostens und Afrikas, die Gesamtzahl der Neuen innerhalb eines Jahres kletterte erstmals auf über eine Million. Seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine im Februar sind, Stand Anfang Oktober, bereits mehr als eine Million Menschen hier angekommen.

Nach Einschätzung des OECD-Experten ist die Aufnahme der Geflüchteten – die meisten sind Frauen, viele bringen ihre Kinder mit – viel unaufgeregter abgelaufen, weil Politik, Verwaltung und Gesellschaft seither „eine Menge gelernt“ haben, schneller reagiert haben und die Länder besser vorberitet waren: „Das ganze System war viel besser aufgestellt als vor sieben Jahren.“ Auch die spektakulären Bilder von flüchtenden Menschen zu Fuß seien ausgeblieben, die Ukrainer:innen kamen in ihren Autos und per Zug.

Zudem aktivierte die EU für die ukrainischen Flüchtenden erstmals die so genannte „Massenzustromrichtlinie“. Wer sich in einem Land in der Union vor dem Krieg in Sicherheit bringen muss, durchläuft kein langwieriges Asylverfahren, sondern erhält automatisch einen Aufenthaltstitel. Er gilt für ein Jahr und verlängert sich zweimal um je sechs Monate. Die OECD hält es für nicht ausgeschlossen, dass mit Beginn der kalten Jahreszeit weitere Menschen in großer Zahl Schutz in EU-Ländern suchen. Sie seien dann sicher verletzlicher und bedürftiger als die, die bisher gekommen sind.

Die bisher Gekommenen – viele der Frauen sind gut bis hochqualifiziert - stellten Deutschland aber ebenfalls vor eine völlig neue Aufgabe: Sie einerseits zu integrieren, dies aber auf eine Weise, die im Blick behält, dass sie zurückwollen und vermutlich auch können. Das war un Falle der meisten Syrer:innen anders. Liebig rät hier zu Gelassenheit: Hier könnten Bund und Länder „eigentlich gar nicht fehllinvestieren“. Entweder sei Aus- und Weiterbildung der Geflüchteten „ein Beitrag zum Wiederaufbau der Ukraine, oder Deutschland profitiert“.

Der Zuzug aus Europa liegt immer noch sehr deutlich unter dem Vorpandemie-Niveau“

Thomas Liebig, Migrationsfachmann der OECD

Deutschland kann nicht mehr auf EU-Zustrom hoffen

Die Arbeitsintegration der Ukrainerinnen lasse ohnedies noch „zu wünschen übrig“. Dies sei aber auch nicht anders zu erwarten gewesen, so Liebig. Es gebe das Sprachproblem und das der Betreuung der Kinder, wenn die Eltern arbeiten. Die Flüchtlinge seien zudem erst einmal eine humanitäre Aufgabe für Deutschland und Europa. Sie würden aber ohnedies „das Fachkräfteproblem nicht lösen“.

Das wird, wie dem OECD-Ausblick ebenfalls zu entnehmen ist, für Deutschland zusehends dringender. Europas stärkste Volkswirtschaft hat zwar wie alle anderen das Coronajahr 2020 auch als starken Einschnitt erlebt, sich aber davon schlechter erholt: Der Zuzug von Europäer:innen - die traditionell den Löwenanteil der Einwanderung nach Deutschland stellten – habe „relativ stark abgenommen“, so Liebig, und liege „immer noch sehr deutlich unter dem Vorpandemie-Niveau“. Es gebe „viele Hinweise, dass das so bleiben wird“.

Deutschland könne nicht mehr mit einem europäischen Arbeitskräfte-Reservoir rechnen wie in den starken Jahren seit den 2010ern. Hinzu kommt, dass es im Wettbewerb um neue Köpfe und Hände mit vielen anderen Ländern konkurriert. Die bisherigen Pläne der Bundesregierung hatte die OECD letztes Jahr als nicht ausreichend kritisiert.

Hinweise, dass sich das durch ein attraktives Angebot lösen lässt, gibt es aber auch: Deutschland ist inzwischen das wichtigste nichtenglischsprachige Land weltweit für internationale Studierende, die hier unter anderem schätzen, dass keine Studiengebühren zahlen müssen, ihre Familie mitbringen und während des Studiums arbeiten können. Wer nach Deutschland kommt, tut dies überdurchschnittlich oft für ein Ingenieursstudium, und das Fach wechseln die ausländischen Studierenden seltener als ihre einheimischen Kommiliton:innen. Wer in Deutschland ausgebildet wurde, geht außerdem nicht mehr so schnell: Nach fünf Jahren hat mehr als die Hälfte eine Stelle in Deutschland. So gut hält sonst nur Kanada seine Neuen. Liebig: „Das hat uns selbst überrascht.“

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