zum Hauptinhalt
Schlägerei im türkischen Parlament am Rande der Debatten über die geplante Verfassungsreform.

© imago/Depo Photos

Verfassungsreform in der Türkei: Mit Fäusten zum Ziel

Von handfesten Auseinandersetzungen ist im türkischen Parlament die Debatte über die Verfassungsreform begleitet. Bis zum Ende der Woche soll Erdogans Projekt eines Präsidialsystems durchgepeitscht werden.

Irgendjemand hat wohl die Mikrofone mit nach Hause genommen – als Andenken an die Saalschlachten während der Debatte um die Verfassungsänderung. Die Mikrofonanlage mit den drei Rohren auf der Rednertribüne des Plenarsaals im türkischen Parlament ist jedenfalls verschwunden, wie Parlamentsmitarbeiter dieser Tage bei Restaurierungsarbeiten während einer Sitzungspause feststellten. 15000 Euro soll sie wert sein, eine handliche Waffe zum Zuschlagen, wie eine türkische Zeitung mutmaßte.

Knapp vier Stunden ist im Schnitt über jeden der 18 Verfassungsartikel, der Recep Tayyip Erdogan auch offiziell zum mächtigsten Mann der Türkei machen soll, gestritten und gekämpft worden. Es gab blutige Nasen und zerrissene Sakkos. Eine Woche lang debattierte das Parlament im Schnellverfahren über die Verfassungsänderungen. Ein Monat wäre angesichts der Bedeutung der Entscheidung angemessener gewesen, kritisierte Levent Gök, einer der stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der oppositionellen Sozialdemokraten. Doch noch diesen Mittwoch, nach zwei Tagen Unterbrechung, wird die zweite und letzte Lesung beginnen.

Dass die regierende konservativ-islamische AKP von Staatschef Erdogan dann erneut für jeden Artikel eine Dreifünftel-Mehrheit mit Hilfe der rechtsgerichteten Nationalistenpartei MHP erhält, gilt als sicher. Für das anschließende Referendum über Erdogans Verfassung steht angeblich bereits ein Termin fest. Am 9.April sollen die Türken Ja sagen. Burhan Kuzu, ein führender AKP-Politiker und Berater des Präsidenten, twitterte am Sonntagabend mit bemerkenswerter Offenheit: „Mein liebes Volk: Zerbrecht euch nicht den Kopf, ob das Präsidialsystem für das Land gut oder schlecht ist. Schaut auf die, die dagegen sind und gebt ihnen eure Entscheidung.“

Das Amt des Ministerpräsidenten soll abgeschafft werden

316 Stimmen hat die AKP im Parlament, mindestens 330 braucht sie, um die Erdogan-Verfassung zum Volksentscheid machen zu können. Stets mehr als 340 Abgeordnete fanden sich bei der ersten Lesung für die Verfassungsänderungen, mit denen das Amt des Ministerpräsidenten abgeschafft wird und Erdogans Vollmachten wachsen: Er kann am Parlament vorbei mit Dekreten regieren, er ernennt seine Minister selbst, wählt die Hälfte der Richter an den obersten Gerichten, muss nicht länger über den Parteien stehen, sondern kann seine AKP wieder allein führen.

„Sie wollen einen totalitären Staat herbeiführen", erklärte Kemal Kiliçdaroglu, der Vorsitzende der sozialdemokratischen CHP. Das Argument der Regierung, ein Präsidialsystem funktioniere reibungsloser als die parlamentarische Demokratie, lässt der türkische Oppositionsführer nicht gelten. „Es gibt auf der Welt kein Beispiel für die Machtkonzentration in einer Hand, die ohne Streit und Kampf wäre“, sagte Kiliçdaroglu vergangene Woche in einer Rede vor der Fraktion. Als Beispiel nannte er Hitler, der durch Wahlen an die Macht gekommen sei und dann die Welt in ein Blutbad gestürzt hatte.

Üblicherweise greifen die Parteichefs in der Türkei nicht im Parlamentsplenum das Wort, sondern überlassen ihren Stellvertretern den Platz an der Rednertribüne. Statt dessen sprechen sie am Dienstag vor ihren Abgeordneten. Das hat den Vorteil, dass die Parteiführer nicht in unschöne Wortgefechte verwickelt werden. Vor allem aber garantiert es ihnen etwas Sendezeit: Reden vor Fraktion und Partei werden live übertragen, Parlamentsdebatten nicht – auch nicht jene über die Verfassungsänderungen für Erdogan.

Nicht alle Ultranationalisten unterstützen Erdogan

Bis Ende dieser Woche will die AKP die zweite Lesung der Verfassungsänderungen durchs Parlament pauken. Streit gab es immer wieder über Abgeordnete im Regierungslager, die entgegen den Vorschriften offen abstimmten, wohl um Druck auf ihre Fraktionskollegen auszuüben. Aufmerksamkeit fanden auch die Ultranationalisten der MHP. Nicht alle in der Fraktion unterstützen die Erdogan-Verfassung. Atilla Kaya, der aus Protest sein Amt als stellvertretender Parteivorsitzender aufgab, zitierte am Montag Hegel, Karl Marx und den „Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte“: Alles Große in der Weltgeschichte ereigne sich zweimal, „das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce“. Die Tragödie hätten die Türken mit dem Putsch vom Juli vergangenen Jahres durchlebt.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false